Eigentlich kann ich den Sommer nicht ausstehen. Weil er mich ziemlich jeden Tag vor diese unmöglich zu lösende Aufgabe stellt: Einerseits gerade so viel Stoff über der Haut zu tragen, daß nicht alles den ganzen Tag klebt und ungemütlich ist. Andererseits noch genügend Stoff zu tragen, daß man sich mit der Auswahl der Garderobe nicht gar zu sehr dem Gespött seiner Mitmenschen aussetzt. Weil man so oder so keine gute Figur darin macht. Wie auch, wenn man eben einfach keine gute Figur hat.

Zu den Vorteilen jedoch, die selbst ich am Sommer schätze, gehören diese entspannenden Situationen, wenn mein Gegenüber nur rätseln kann, ob die Farbe meines Gesichts ausschließlich vom Sonnenbrand herrührt. Oder ob da eventuell mein durch jemandes unentschuldbare Ungebührlichkeiten in die Höhe geschnellter Blutdruck mit im Spiel ist und deshalb der empfohlene Sicherheitsabstand von mindestens einer Armlänge freiwillig eingehalten wird.

Grundsätzlich besteht bei sich ankündigenden Auseinandersetzungen natürlich auch immer die Alternative, alles weise beiseitezulächeln.

In der Theorie klappt das bei mir auch eigentlich sehr gut. Meine Tagträume jedenfalls sind um einiges friedlicher geworden, seit ich um diese Möglichkeit weiß.

Wenn mir dann aber zwei vorlaute Halbstarke bei einem Ballonmodellage-Einsatz mein Material klauen, während ich neben dem Modellieren eine Warteschlange von 30 Menschen moderieren muss, kann man auch ´mal anders entscheiden und die Situation entspannt eskalieren. Ich empfahl den Lausbuben, sich von der nebenan stehenden Frau bitte bestätigen zu lassen, daß meine momentane nicht meine ständige natürliche Gesichtsfarbe ist. Auf daß ihnen bewusst wird, auf welch dünnem Eis sie sich aktuell bewegen an diesem heißen Sommertag.

Seit diesem Tag weiß ich: Wenn sich tumultartige Zustände jemals durch einen lockeren Spruch haben vermeiden lassen, dann können keine pubertierenden Jungs als Hauptakteure beteiligt gewesen sein. Manches lässt sich eben doch besser über Lautstärke regeln. Ich habe den beiden noch hinterher geschickt, daß sogar mein Hund besser erzogen ist als sie.

Nüchtern betrachtet kann der letzte Satz natürlich leicht auf mich zurückfallen. Deshalb sei angemerkt, daß ich zu jener Zeit erstens noch nicht alleinerziehender Mensch dieses zweitens erst seit einem halben Jahr in unserem Haushalt anwesenden als Hund bestens getarnten Monsters gewesen bin.

Hundeerziehung, gemeinsamer Haushalt, Monster – wenn ich recht darüber nachdenke, sind Frauen übrigens auch nicht immer ideale Konfliktparteien in diesem Sinn. Was nun beileibe keine originelle Erkenntnis ist. Aber vielleicht muss man es einmal, vielleicht auch mehrere Male im Leben niederschreiben, um es verstanden zu haben. Inzwischen glaube ich sogar, daß das Gelassenheitsgebet als direkte Folge einer solchen Einsicht entstanden ist. Aber das bleibt Spekulation.

Davon unabhängig halte ich daran fest: Die edelste aller Eigenschaften, die ein durchschnittlich begabter Mensch im Repertoire haben sollte, äußert sich in folgender Konfliktsituation: Obschon gedanklich bereits Szenarien durchgespielt werden, die einen FSK-18-Aufkleber auf der Stirn mehr als rechtfertigen würden, ist man noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und also in der Lage, sich bewusst gegen das Inferno und für eine weniger destruktive Reaktion zu entscheiden. Ein ironischer Kommentar ersetzt das dringende Bedürfnis, auszurasten und zuerst Karthago und danach den kompletten Planeten zu zerstören. Wenn es nach dem Versuch trotzdem knallt, hat es wenigstens nicht an einem selbst gelegen.

Gestern – heute – morgen

Als Praxisbeispiel eine Begebenheit aus grauer Vorzeit: Ich hatte mir gerade meine ersten Sporen im Lager eines Tonträgervertriebs verdient, als wir zu dritt auf der Hühnerstange eine selbstverständlich wie stets hochverdiente Rauchpause einlegten. Wir rekapitulierten den aktuellen, eher suboptimal zu bezeichnenden Ist-Zustand: Das Lager war so voll, daß wir manche Lagerplätze nur im Krebsgang erreichen konnten. (Ich machte damals eine bessere Figur als heute, also löscht die Vorstellung aus Eurem Kopf wieder.) Niemand konnte ernst gemeinte Vorschläge einbringen, wohin mit dem ganzen Kram. Die Stimmung war also bestens, anders kann man es nicht beschreiben. In diese Situation hinein kam eine Kollegin, erzählt mir von ihren Ordnern, die in ihrem Büro so viel Platz wegnähmen, „und da dachten wir uns: wozu haben wir denn ein Lager…“

Die Szenerie wäre jedem Western gerecht geworden, wenn im Saloon ein falscher Spruch ausreicht, so viel Spannung zu erzeugen, daß der ganze Laden mucksmäuschenstill ist und jeder weiß, daß die Stimmung nun kippt. Ich habe von einer Sekunde auf die andere allein dagesessen, weil die anderen zwei Kollegen ihre Kippen so schnell ausgemacht und sich in Sicherheit gebracht haben, daß ich es gar nicht mitbekommen habe. Nun wollte ich mir – anders als die entschwundenen Kollegen – meine gerade erst begonnene Zigarette nicht verderben lassen. Schließlich hält man das als Raucher tatsächlich für so etwas wie Genuss. Und obendrein entspannend. Und je mehr mir allmählich dämmerte, daß ich für ihr Anliegen keine vernünftige, beide Seiten zufrieden stellende Antwort finden würde, umso lustiger fand ich das alles. Am Ende konnte ich nicht umhin, laut loszulachen. Kein „Wohl zu nahe an der Wand geschaukelt“, keine vergleichbaren Beleidigungen. Danach waren die Verhandlungen leichter.

Bei meiner jetzigen Stelle haben wir momentan zwar nicht diese extremen Platznöte, aber dennoch seit Wochen ausreichend andere Probleme, gegen die letztinstanzlich im Grunde ausschließlich Galgenhumor weiterhilft. Seit fünf Wochen trägt jeder Arbeitstag das Qualitätsprädikat: Vergessenswert. Eine Stressfigur hat schon den Kopf verloren. Abgebissen. Nichts hält mehr. Ansonsten aber keine größeren Schäden. Gemessen an dem Stress ein gutes Zeichen. Vielleicht bin ich doch langsam auf dem Weg zurück zu dem Ideal, dem ich früher schonmal näher gewesen bin.

Was waren das Zeiten, als die beste Freundin beispielsweise meinen Kauf des Buches „Wege zur Gelassenheit“ mit dem Kommentar begleitete, das sei ich doch sowieso schon ausreichend. Oder eine andere frühere Kollegin: „Wer mit Dir Ärger bekommt, der hat den aber auch gewollt.“

Dieses Image, verbunden mit einer Aufrechterhaltung des Nimbus´, wonach viele Leute es besser nicht auf den Test ankommen lassen, wie es ist, wenn ich wider Erwarten doch einmal ausraste – dort will ich wieder hin; diese Kombination ist unschlagbar.

Doch offen gestanden weiß ich nicht, wo genau auf dem Weg an dieses Ziel ich mich zur Zeit befinde. Es gibt Tage, an denen mir scheinbar jegliche Grundlässigkeit früherer Tage abhanden gekommen ist. Wenn diese Grundlässigkeit die Schale gewesen ist, in der sich ein leicht entzündlicher Kern verbirgt, ist im Laufe der Jahre diese Hülle reichlich zerrieben worden. Irgendwie. Irgendwo. Vermutlich zwischen Lohnarbeit, Beziehung, allgemeinen Alltagssorgen, anhaltender Missachtung meiner Attraktivität durch Frauen. Nicht zu vergessen eine gesellschaftliche Formation, mit der Frieden zu schließen sich nach wie vor verbietet, sowie, und auch das muss ausgesprochen werden, Abstinenz von alkoholhaltigen Erfrischungsgetränken.

Geblieben ist der explosive Kern, an den man umso leichter gelangt. Das ist wohl relativ genau das, was der Spruch, „die Nerven liegen blank“ ausdrücken möchte.

Diesen Prozess umzukehren, rückgängig zu machen, wäre doch mal ein Ziel, dessentwegen sich das Weiterleben noch wirklich lohnt.

Und dabei noch eine gute Figur zu machen… zwei Ziele, die mich über den Sommer hinaus beschäftigen werden.