Selbst wenn in zwei bis drei Generationen unsere Art zu leben einmal komplett vom Kopf auf die Füße gestellt sein wird, werden nach meiner heutigen Einschätzung zumindest bei der Art, wie hierzulande eine Veranstaltung abzulaufen hat, nach wie vor zwei Dinge prägend sein. Zum einen wird, auch wenn ansonsten 150 Street Food Trucks ihre Gerichte feilbieten und für Abwechslung auf dem Speiseplan sorgen, in irgendeiner Ecke ein ganz profaner, aber stark frequentierter Grill zu finden sein, an dem ganz ordinäre Bratwürste zu erstehen sind, die in aufgeschnittenen Brötchen serviert und mit Senf oder Ketchup aus 10-Liter-Eimern dekoriert werden. Unter Berücksichtigung des Aspekts, dass in spätestens 20 Jahren Fleischfresser in etwa so beliebt sein werden wie heute Raucher, Diesel-Fahrer oder Sachsen beileibe keine Selbstverständlichkeit.
Die zweite Konstante im Trend-Dschungel: Sobald die Musik aufspielt, muss im Prinzip jederzeit damit gerechnet werden, dass von irgendwoher ein Typ auftaucht, der es vorher geschafft hat, komplett unauffällig zu bleiben, maximal harmlos an seinem Kaltgetränk genuckelt hat, jetzt aber vom ersten Ton an die Hüften schwingt und abgeht, als gäbe es kein Morgen. Die Choreografie erlaubt auch den Versuch akrobatischer Elemante wie Purzelbaum, Spagat oder Dreifach-Toeloop. Die meisten dieser Verrenkungen sehen jedoch eher danach aus, als ob wir gerade erst noch lernen würden, aufrecht zu gehen.
Solche Figuren erinnern mich nicht nur an meinen eigenen Tanzstil, sondern auch und vor allem an das Zappeln vor der Keramik, wenn der Reißverschluss klemmt. Es darf auch niemandem böse Absicht unterstellt werden, wenn er angesichts solcher Darbietungen erst in zweiter Linie überhaupt an Tanzen denkt.
Zwangsläufig erinnern mich solche Gestalten allerdings auch daran, dass ich als Single dem Thema Tanzen etwas aufgeschlossener gegenüber sein sollte. Indessen: Sollte die Vorführung dieser eigenwilligen Moves tatsächlich auch nur bei einem Menschen signifikant zur Steigerung der Paarungsbereitschaft beitragen, braucht sich über den Zustand dieser Gesellschaft ganz offensichtlich niemand mehr wundern. Ich wiederum wundere mich gerade in Fragen menschlichen Balzverhaltens seit einigen Jahren ohnehin schon über so ziemlich gar nichts mehr. Wenn am Ende des Tages solcherlei Zappeln dann wider Erwarten doch zu Sex führen sollte, würde es mich dann andererseits doch wieder wundern. Das Leben ist wohl tatsächlich wie eine Schachtel Pralinen, wie wir alle spätestens seit Forrest Gump wissen. Man weiß nie, was man am Ende bekommt.
Von der anderen Seite aufgerollt wird es nicht unbedingt besser: Wenn zur Steigerung der Paarungsbereitschaft potentieller Kandidatinnen tatsächlich solches Gehampel notwendig sein sollte, steige ich aus dem Genpool besser freiwillig aus. Wenn der Preis für eine langfristige Beziehung oder zumindest eine schnelle Gelegenheit hinter einem Busch die Komplettaufgabe jeglicher Selbstachtung sein sollte – mir persönlich wäre der Preis zu hoch. Folgerichtig appelliere ich an meinen Kumpel, der zwar nicht ganz so fassungslos wie ich, wenigstens aber mit einem zaghaften Schmunzeln im Gesicht die Szenerie beobachtet, die sich uns eines schönen Sonntagnachmittags im Sommer diesen Jahres bietet: „Egal, was passiert – wenn ich irgendwann einmal so ´rumhopse, verpass´ mir eine Schelle, dass ich nicht mehr stehen kann.“
Seine Reaktion auf meine Bitte war voraussehbar. Solange dieser Mensch beim „Tanzen“ seinen Spaß habe, sei es erst ´mal egal, wie scheiße das aussieht.
Die Stimme der Unvernunft
„Wenn den Typen nicht stört, wie Hunderte Menschen ihn auslachen, darf er auch seinen Spaß haben. Da habe ich gar nichts dagegen.“
Schnell näherten wir uns dem Punkt, an dem ich darauf hinweisen muss, dass es zwischen „gern tanzen“ und „gut tanzen“ einen Unterschied gibt. Und wenn alle Tänzer dieses Landes sich nur einmal im Leben ihr Tanzen ansehen müssten, um dabei objektiv festzustellen, dass es so geil jetzt auch wieder nicht ist, würde sich die Anzahl der Hobbytänzer schon von selbst auf ein gesundes Maß reduzieren. Übrig blieben die, die es tatsächlich können. Plus die, denen es tatsächlich nichts ausmacht, dabei von allen Seiten belächelt zu werden.
„Es geht hier aber außerdem um weit mehr als solche allgemeinen Fragen. Es geht um mich. Das ist wie eine Patientenverfügung. Im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte erkläre ich Dir hiermit, dass ich nicht beim Tanzen in der Öffentlichkeit gesehen werden will, sollte ich irgendwann einmal in die Verlegenheit kommen, nicht mehr Herr meiner Entscheidungen zu sein. Weil es nicht nur so scheiße aussieht wie bei diesem Patienten dort, sondern noch wesentlich schlimmer, wenn ich tanze. Also schick´ mir ein Klotz, wenn es ´mal so weit kommen sollte. Je weniger ich mich danach bewegen kann, umso besser…“
Da dieses Gespräch nur ungefähr so stattgefunden hat wie hier rekonstruiert, darf man sich gern ab dieser Stelle anstelle meines Kumpels eine Bauchrednerpuppe vorzustellen, die stellvertretend das wiedergibt, was der Puppenspieler denkt, sich aber scheut, selbst auszusprechen. „Jetzt mach´ ´mal einen Punkt! Du warst sieben Jahre verheiratet, würdest es sogar wieder tun, und dann willst ausgerechnet Du mir noch ernsthaft was von ´Herr Deiner Entscheidungen´ erzählen..! Von der Selbstachtung, die Du vorhin als Stichwort in den Ring geworfen hast, will ich erst gar nicht wieder anfangen.“
Der Scharfsinn seiner Argumentation überfordert mein Bedürfnis, mich weiter in das Thema ´reinzusteigern.
Da ich nicht restlos davon überzeugt bin, mich im besten Alter für die Tanzschule zu befinden, würde ich bis auf weiteres bei der Partnerwahl trotzdem eine Nichttänzerin bevorzugen, die sich damit anfreunden kann, dass ich meiner Stimme der Unvernunft schon seit längerem keine Sprechzeiten mehr gewähre.
Auf der Heimfahrt von einem mäßig attraktiven Fest am Ufer der Lahn, bei dem die Live-Musik eindeutig den Ausreißer nach oben darstellte und folgerichtig meinerseits durch ekstatisches Mitwippen begleitet wurde: „Ich hab´s mir überlegt. Du brauchst mich von nichts abhalten, wenn es irgendwann doch einmal so weit sein sollte. Lass´ mich einfach hüpfen“, erkläre ich generös.
„Ich kann schließlich nicht zulassen, dass Du anschließend wie der Assi dastehst, der einen anderen ausknockt, bloß weil er bescheuert tanzt.“
Sag´ nochmal jemand, man könne in diesem Land durch Argumente nichts bewegen.
Ob man für diese Erkenntnis bis nach Gießen fahren musste, steht auf einem anderen Blatt.
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