Zwar erfordert es ein gehöriges Maß an Gleichgültigkeit gegenüber dem Leser, einen Text mit „Die Zeiten ändern sich“ einzuleiten. Andererseits wird dieser Aussage vermutlich auch niemand ernsthaft widersprechen wollen. (Können natürlich erst recht nicht.) Und angesichts des Themas, um das es geht, erscheint sogar diese abgenutzteste aller Phrasen angemessen.

Wenn man nämlich runde dreißig Jahre lang auf der Jagd nach Schnäppchen in Sachen Lesefutter verbracht hat und plötzlich zum zweiten Mal hintereinander den Medienflohmarkt der örtlichen Bibliothek als diesbezüglichen (Halb-)Jahreshöhepunkt mit lediglich einer Hand voll CDs verlässt und derweil das Angebot an Büchern überhaupt nicht angemessen inspiziert hat, dann ist das mehr als eine Laune, fürchte ich. Das ist eine Zeitenwende. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass es jeweils eher zwei Hände voll CDs gewesen sind. Eine Zäsur.

Spät, letzten Endes aber erfolgreich, hat sich doch noch die Einsicht durchgesetzt, dass ich die zu Hunderten in meinen Regalen befindlichen ungelesenen Veröffentlichungen in diesem Leben nicht mehr alle werde lesen können. Das bedeutet nicht, dass ich mir nie wieder ein Buch kaufen werde. Jedoch brauche ich mir nicht noch regelmäßig regelrechte Massen an Schrifterzeugnissen zusätzlich kaufen, bloß weil sie zum Schnäppchenpreis zu haben sind.

Auch wenn mir das alles nicht erst seit gestern dämmert, benötigte ich zur endgültigen Bekehrung meinen Sohn, der mir unlängst den Spiegel vorgehalten und meine Konsumgewohnheiten entlarvt hat: Als es um die Frage ging, ob er den von mir geschenkten Band Disneys Lustige Taschenbücher mit zu sich nach Hause nehmen möchte, meinte er, die sammele er hier bei mir.

Sammeln.

Sammeln..!

Da bei jedem Neuzugang im Regal ja unausgesprochen die Frage im Raum stand, wann bitteschön ich das lesen soll, ging es mir in Wahrheit wohl ab einem heute nicht mehr genau zu rekonstruierenden Zeitpunkt wenigstens zum Teil darum, die Bücher einfach nur zu haben. Vielleicht war meine Leseleidenschaft einfach nur eine gut getarnte Sammelleidenschaft. Das Sammelgebiet sind günstige Bücher, die irgendwo lesenswert sind, von denen man aber angesichts der durchschnittlichen Lebenserwartung weiß, dass sie aufgrund des immensen Vorrates an ebenso lesenswerten Büchern niemals zum Zuge kommen werden. Die man andererseits aber auch nicht stehen lassen kann, weil man sie schließlich nie wieder so günstig bekommen wird.

Hat man als Hauptursache fürs Nichtlesen erst einmal den Mangel an Zeit identifiziert, ist es recht naheliegend, beim Aufräumen mit Sprachkursen zu beginnen, bei denen über das reine Lesen hinaus noch weitere Zeit investiert werden muss. Als hätte ich es geahnt, hatte ich mich im Laufe der letzten Zeit bereits von den Lehrbüchern für Italienisch, Türkisch und Tschechisch getrennt und mir dafür bei gleicher Gelegenheit „Die Kunst, Zeit zu haben“ zugelegt. Leider hatte ich bis jetzt keine Zeit, ins Buch zu schauen.

Den „Sprachlehrgang Norwegisch. Ein Standardkurs für Selbstlerner“ hatte ich, wohl weil sich die Sprache sehr witzig anhört, bis jetzt vor der Verbannung ins Tauschregal der Sparkassenfiliale verschont. Aber irgendwann muss sogar ich vor mir selbst zugeben, dass meine nicht vorhandenen Norwegisch-Kenntnisse nicht daran liegen, dass das Begleitmaterial zum Buch auf Kassette ist. Denn dass ich zu den Wenigen gehöre, die für diese Dinger überhaupt noch eine Abspielmöglichkeit besitzen, dürfte diejenigen, die mich entweder kennen oder ersatzweise diese Texte hier regelmäßig lesen, kein direkt überraschendes Bekenntnis sein.

Den Russisch-Sprachkurs dagegen behalte ich noch. Man kann ja nicht wissen, wofür dieser eventuell noch ´mal gut sein kann.

Die kalte Haut der Stadt“ ist ein Buch aus der Zeit, als ich mindestens einmal im Monat samstags nicht auf den Flohmarkt gehen konnte, um dort neue alte Bücher zu kaufen. Denn wenn man sich in einem gewissen Alter befindet, zieht eigentlich gefühlt jeden Samstag irgendjemand aus dem erweiterten Freundeskreis um, der für unkomplizierte Hilfe beim Schleppen dankbar ist. Einmal bekam ich bei dieser Gelegenheit einen über 500 Seiten starken Roman in die Hand gedrückt. Ich solle ihn einfach mitnehmen. Das war zwar kein gleichwertiger Ersatz für die vier bis fünf Biere, die ich bei solchen Events üblicherweise zu mir zu nehmen gewohnt war, aber irgendwie war ich überrumpelt genug, das Teil wie angeordnet mitzunehmen, auf dass es seit diesem Tag weitgehend unangetastet bei mir im Regal steht. Weitgehend meint in diesem Fall, dass es lediglich zum Zwecke meiner eigenen seitherigen Umzüge in die Hand genommen wurde. Einen dritten Umzug möchte ich dem Wälzer ersparen. Auch wenn ich derzeit keinen solchen plane, muss das Buch jetzt weg. Man kann ja nie so genau wissen, was das Leben noch so bereit hält.

Anders als die meisten anderen Menschen aus meinem Umfeld habe ich meine bisherigen Umzüge nicht als Gelegenheit wahrgenommen, auf einen Schlag viele Bücher einfach ´mal auszusortieren. Das Ausmustern von Büchern war dreißig Jahre lang Mittel zum Zweck, neue gebrauchte Bücher irgendwie unterzubringen. Dass die Sammlung beide Umzüge plus Ehegattin überstanden hat, verdeutlicht den Stellenwert, den Bücher trotz des bis hierhin Gesagten für mich hatten und haben. Aber seien wir ehrlich: Ein Umzug mit Büchern ist das beste Argument für einen ebook-Reader. Gleichzeitig aber auch das einzige.

Schon allein das Fehlen des Momentes, in dem ich einem Freund gegenüber das Versprechen äußere, er könne das Buch haben, wenn ich damit durch bin, zerfickt jede denkbare Rechtfertigung für so ein Gerät. Trotz meiner Sammelwut bin ich nämlich ein Kandidat dafür, meine Bücher zu verschenken. (Allerdings für eine gewisse Zeit noch der Illusion zu erliegen, ich hätte sie nur verliehen.)

Dass sich diese Praxis nicht allein auf Bücher beschränkt, macht die Angelegenheit nicht eben einfacher. Doch weiter im Text!

Autogenes Training. Anwendung, Heilwirkungen, Methoden“ ist ebenfalls zum Abschuss freigegeben. Mehr als ein Buch zu diesem Thema zu haben, erinnert mich immer an die „Zwei Hände, aber nur einen Mund“-Problematik. Wenn man es nicht praktiziert, ist streng genommen auch ein Buch darüber schon eins zuviel. Ich behalte es trotzdem. Man kann schließlich nie wissen…

Es wäre schön, wenn die Sachlage immer so eindeutig wäre wie bei den bisher genannten Titeln. Was aber mache ich mit Marilyn French, Simone de Beauvoir, Cheryl Benard/Edit Schlaffer? Standards der feministischen Literatur oder wie ein früherer Bundeskanzler es wahrscheinlich kurz, dafür prägnant umschreiben würde: Frauengedöns. Titel, die mein Denken mindestens genauso geprägt haben wie die Beobachtung, dass nicht wenige der Freundinnen und Genossinnen, welche mir diese ans Herz gelegt haben, sich am Ende des Tages die letzten Prolls inner- oder außerhalb der Szene als Partner ausgeguckt haben. Verkehrte Welt. Doch wenn letztgenannte sowieso irgendwann zugrunde geht, ist es wahrscheinlich sowieso zweitrangig, wie belesen oder gebildet man ist. Viel wichtiger: Dass man selbst dabei noch den bestmöglichen Eindruck hinterlässt. Dazu gehört, auch wenn diese Einsicht für mich wieder ´mal recht spät kam, dass man das beste Outfit trägt, das die Situation dann gerade zulässt.

Aufmerksame Leser werden registrieren, dass wir allmählich auf die Stelle des Textes zusteuern, in der zur Besinnung auf das wirklich Wichtige im Leben aufgefordert wird. Gerade wenn am Ende die Erkenntnis steht, dass man mit dem gelegentlichen Ausmisten des Bücherregals eher die Symptome anstelle der Ursachen bekämpft, kann die Beschäftigung damit, was einem wirklich wichtig ist, kein so ganz untaugliches Konzept sein.

Zwar kann man das selbstverständlich auch praktizieren, ohne vorher ein entsprechendes Buch gelesen zu haben, aber selbstverständlich gibt es auch zu diesem Thema ein selbstverständlich nicht gelesenes Buch in meinem Bestand: „Ich könnte alles tun, wenn ich nur wüsste, was ich will“ verspricht Antworten auf Fragen, die ich mir mindestens schon so lange stelle wie ich Bücher sammle.

Ich glaube, diesen Titel behalte ich lieber noch. Man kann ja nie wissen, wofür es noch gut ist.