Rüdiger Vollborn. Ein anderer Name hätte garantiert größeren Sinn ergeben. In der Bundesliga hatte es zu jener Zeit an guten Torhütern nicht gemangelt, allen voran natürlich der legendäre Harald Schumacher. Vollborn, immerhin Jugend- und Junioren-Nationalspieler gewesen, hatte sich bei den Herren gegenüber der Konkurrenz nicht durchsetzen können. Das macht ihn nicht gleich zu einem schlechteren Menschen, erklärt aber die Reaktion meines Bruders, der als Antwort auf die Frage nach meinem Vorbild ziemlich sicher mit einer anderen Person gerechnet hatte. Vielleicht sei es gar nicht dumm, meinte er, sich als Leitfigur nicht die Besten auszuwählen, sondern etwas Realistischeres. Ob er damit Recht hatte oder nicht, bleibt zu klären. Als gesichert gelten darf dagegen, dass er einen für seine damaligen Verhältnisse guten Tag hatte. Man weiß nicht, ob es Absicht war oder nicht oder ob die für ihn überraschende Antwort sämtliche Sinne vernebelt hatte. Jedenfalls hatte niemand vorher meinen Bruder jemals sich derart diplomatisch äußern hören. An anderen Tagen waren nämlich von ihm eher Sprüche zu erwarten wie: „Dass Du Dir überhaupt einen Sportler zum Vorbild nimmst, ist der eigentliche Hammer!“ Und ich hätte ihm Recht geben müssen.

In einem Kurzbeitrag, den ich über Vollborn im Fernsehen gesehen hatte, war es ein Zusammenschnitt von mehreren Paraden, der mich fasziniert und letzten Endes so beeindruckt hat, dass er nach Winnetou und Bud Spencer zur ersten Person erklärt wurde, der ich bewusst nachzueifern gedachte. Obwohl ich mit meiner damaligen Figur froh sein durfte, wenn ich beim Versuch, einen Ball aus dem Winkel zu fischen, überhaupt vom Boden abhob und mich nicht einfach seitlich fallen ließ und dabei die Arme ausstreckte. Eigentlich sah ich bei meinen „Paraden“ wahrscheinlich eher aus wie ein von einem Schuss getroffener zusammensackender Akteur aus einem Winnetou-Film. Der Kreis schloss sich. Als Kinder nahmen wir ja auch an, hervorragende Schauspieler werden zu können, weil wir doch so täuschend echt umfallende Schussopfer spielen konnten. Anders ausgedrückt: Von zwei äußerst unrealistischen Karrierezielen war Schauspieler einen Hauch weniger absurd als Fußballtorwart.

Aus irgendeinem Grund sahen das meine Eltern genau anders herum und meldeten mich für einen Probetrainingstag im Fußballverein an, wo mir unmissverständlich klargemacht wurde, dass man auch dann konditionell topfit zu sein hat, wenn man doch nur die meiste Zeit des Spiels darauf wartete, dass Spieler mit Ball, wahlweise auch ein Ball ohne Spieler, aufs Tor zukamen. Von dem Torwartwunsch war ich fortan geheilt, behielt aber die Praxis bei, mich nicht mit den Besten vergleichen zu wollen. Ich kann meinen Bruder nicht als Alleinverantwortlichen für diese Misere benennen, aber seinen Beitrag hat wohl auch er dazu geleistet, dass ich am Ende so wurde, wie ich bin.

Jenseits dieses langfristigen Effektes war mein Bruder freilich selbst oft genug Vorbild für mich. Zumindest bis die Phase begann, an dem ein drei Jahre jüngerer Bruder wirklich lästig werden kann und er deswegen gezielt zu unterbinden lernte, dass ich mich weiter an ihm orientiere. Letzten Endes erfolgreich. Eine Win-win-Situation für beide Parteien, denn wie wir heute wissen, waren zu jener Zeit seine wirklich nachahmenswerten Eigenschaften und Taten so zahlreich dann eher nicht gewesen.

Ich bin mein eigenes Idol

Vorbilder kamen und gingen. Zudem lernte man im weiteren Verlauf, zwischen Vorbildern und Idolen zu differenzieren. So wie man gelernt hatte, dass man niemals ein so guter Tormann wie Rüdiger Vollborn wird, wusste man später einfach, dass man auch niemals so gut singen oder Gitarre spielen können würde wie die Stars, deren Poster im Jugendzimmer hingen. Und da Popularität seinerzeit mehr als heutzutage daran gekoppelt war, dass man irgendetwas relativ gut kann, dieses Können jedoch meist nicht so einfach zu erwerben ist, beschränkte man sich irgendwann darauf, Äußerlichkeiten seiner Stars zu kopieren: Brillenform, Kleidung, Frisur. Ich kann mich daran erinnern, wie mein Friseur die Hände über dem Kopf zusammenschlug, als ich ihm eine Schallplatte von Howard Jones gezeigt und ihm den Wunsch übermittelt habe, mit genau dieser Frisur ausgestattet werden zu wollen.

Die Frisur passte weder zu meinem Gesicht noch zu meinem Typ noch zu meiner Angewohnheit, morgens exakt null Minuten Zeit für das Stylen meiner Haare aufzubringen. Der herausgekommene Kompromiss war selbst für die Achtzigerjahre, in denen sonst eigentlich alles erlaubt war, gewagt. Der Friseur hat insgeheim sehr wahrscheinlich gehofft, dass ich niemals jemandem verrate, wer für die technische Umsetzung dieser Katastrophe verantwortlich war.

Ich sah also nicht nur nicht aus wie ein Star – auch meine Gesangskarriere verlief weit weniger spektakulär als erhofft. Obwohl ich doch oft daran „arbeitete“, wenn ich gerade ´mal allein zuhause war. Keine guten Zeiten, den Glauben an den positiven Einfluss seiner Idole zu bewahren. Zu allem Überfluss versucht man sich ja irgendwann ungefähr zu dieser Zeit ohne wirkliche Not von den Eltern als den ersten und einzig wahren Vorbildern um jeden Preis zu distanzieren. Und da man ja irgendwann noch einmal später im Leben entweder alles Vorgenommene erreicht hat und mit sich selbst im Reinen ist oder eben nicht alles erreicht hat und deswegen zum Zyniker geworden ist, gehen mit dem Alter und den Zielen auch so ein bisschen die Vorbilder verloren. Heute könnte wenigstens noch der auf einem Krokodil fahrende Waschbär ein angemessenes Vorbild sein.

Damit immer noch nicht genug. Denn ab dem Moment, wo man mindestens ein Kind hat, muss man auf einmal selbst Vorbild sein. Oder will man. Idealerweise beides. Schließlich weiß man ja, dass die Kids einem eigentlich alles nachmachen, selbst wenn man sie noch so gut erzieht. Auf solche Weise werden im Prinzip ständig neue Idioten reproduziert. Kleine Arschlöcher, denen man bereits früh ansieht, dass sie später zu großen Arschlöchern werden. Exemplarisch zu beobachten, wenn schon Buben im Grundschulalter die mackerhaften Verhaltensweisen ihrer älteren Vorbilder imitieren. Noch nicht geradeaus pissen können, aber schon einen auf dicke Hose machen.

Da es schon mit dem Singen, der Schauspielerei und dem Fußballspielen nicht so geklappt hat, möchte man natürlich wenigstens das besser können. Als Teilzeitpapa sind meine Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Nachwuchs allerdings ohnehin geringer als mir lieb sein kann. Und es werden Zeiten kommen, an denen meine Haltung zu bestimmten Sachverhalten so gut wie gar nichts mehr zählt. Angesichts dieser eher trüben Aussichten hilft es ungemein, sich von Zeit zu Zeit zu vergegenwärtigen, dass man ein gutes Vorbild sein kann, auch ohne den Besten seiner Zunft anzugehören. Als Elternteil in einer Reihe zu stehen mit talentierten Torhütern, Winnetou, Bud Spencer und dem auf einem Krokodil fahrenden Waschbären ist ja schon auch kein ganz schlechtes Ergebnis. Wenn ich es am Ende meiner Tage noch in solch prominente Umgebung schaffen würde, würde mir das ja schon reichen und für manches verpasste Ziel entschädigen.