Die wesentlichen Entscheidungen im Leben sind wohl getroffen, wenn man die 40 einmal überschritten hat. Beruflich sind spektakuläre Wendungen kaum zu erwarten. Für die Karriere-Optionen Rockstar oder Ballett-Tänzer jedenfalls sind die Türen längst zugefallen. Ein Umzug ins Eigenheim scheitert an allem, woran er auch früher schon immer gescheitert ist. Auch die Wahl des Lieblings-Fußballvereins, für den man sich vor mindestens 30 Jahren entschieden hat, wird nicht mehr korrigiert. Die Fragen, die sich heute noch stellen, sind keine Angelegenheiten von besonderer Tragweite: Was esse ich heute Abend? Und mit welcher Sendung soll die Flimmerkiste den hoffentlich wohlverdienten Feierabend ausklingen lassen? Etwaigen Entschlüssen, zu vorgerückter Stunde noch hinauszugehen und Party zu machen, hat die Vernunft bereits vor Jahren eine Absage erteilt.

Am nächsten Morgen ist die erste Entscheidung im Normalfall: Aufstehen oder Schlummertaste betätigen und noch einmal umdrehen. Manchem wird diese Frage auch von der bis zum Anschlag gefüllten Blase abgenommen. So oder so – ein so ereignisreiches Leben, dass man nur darauf wartet, beim ersten Ton des Weckers umgehend aufzustehen und endlich in den Tag starten zu können, führen nur die wenigsten.

Es schließen sich die nächsten Banalitäten an: Brötchen oder Croissant? Doch nur Kaffee? Kippe vorher, nachher oder währenddessen? Darauf folgen an einem durchschnittlichen Tag zwischen 20.000 und 100.000 Entscheidungen. Immerhin: Angesichts der Überlegung, dass es offenbar Jobs gibt, bei dem die Entscheidungen anderer Menschen akribisch beobachtet und mitgezählt werden müssen, finde ich meine Arbeit plötzlich angemessen abwechslungsreich. Ich komme zu dem Schluss, dass nicht jede bisherige Entscheidung in meinem Leben komplett verkehrt war.

Durch den Satz, man könne nicht alles haben, wird man üblicherweise als Kind und somit bereits früh im Leben damit konfrontiert, worauf es im Leben ankommt. Eine gute Wahl zu treffen nämlich. Ist mir der Spiel- und Bastelbogen aus dem Micky-Maus-Heft wichtiger, oder soll ich mein Geld in ein Yps-Heft anlegen und eine Rolle Papier vom heimischen Klo zweckentfremden, um daran an einem dunklen und feuchten Aufstellort mit den im Heft gelieferten Sporen Pilze zu züchten? Die ich im übrigen sowieso nie gegessen hätte, wenn denn irgendwann ´mal welche gewachsen wären. Jede Entscheidung für etwas ist gleichzeitig eine Entscheidung gegen etwas anderes.

Zu keinem Zeitpunkt jedoch sind Entscheidungen so existenziell wie in der Jugend. Puma oder Adidas? Generell das Verhältnis zu den Gleichaltrigen: Läuft man bei denen Coolen mit, bei den Adidas-Trägern, um die sich die Mädchen scharen? Oder lebt man lieber wahre Coolness aus und arrangiert sich irgendwie damit, dass das auf das zu beeindruckende Geschlecht wenig anziehend wirkt?

Wirkliche Grundsatzentscheidungen werden in dieser Phase des Lebens eher nebenbei getroffen:
Will man einmal viel Geld verdienen oder wenigstens ein bisschen Spaß auf der Arbeit? Will man schlau sein oder reicht es aus, nur so wirken? Ist am Ende beides überbewertet und man kann sich darauf beschränken, gut auszusehen?

Entscheidungen über Entscheidungen. Man kommt bei diesem Thema heutzutage nicht darum herum, die Vielzahl möglicher Alternativen zu erwähnen, die es einem erschweren, sich festzulegen. Nicht ganz von ungefähr ist „wir telefonieren später nochmal“ der gefühlt meistgehörte Satz. Jedes Jahr an Silvester spitzt sich die Furcht davor zu, eine vorschnelle Entscheidung zu treffen. Bloß nicht allzu früh festlegen, schließlich könnte sich noch eine attraktivere Festivität auftun.

Man ahnt es bereits: Glücklicher sind wir durch all diese Möglichkeiten nicht geworden. Die Auswahl lässt eine Entscheidung für eine Sache tendenziell mit dem Gefühl zurück, eine andere Entscheidung könnte besser gewesen sein. Das mag im Falle eines Joghurts noch keine großen Auswirkungen auf das zwischenmenschliche Gefüge haben. Was das allerdings für eine Paar-Beziehung bedeutet, kann sich jeder selbst ausmalen.

Should I stay or should I go?

Wenn sich an einem ganz gewöhnlichen Tag nach fünf Minuten Arbeit die Frage Gehen oder Bleiben stellt, ist das, wie oben gesehen, bei weitem nicht die erste, unter Umständen aber eine der wichtigsten Fragen des Tages. Da es ein ganz gewöhnlicher Tag ist, wird es niemanden überraschen, dass ich am Ende bleibe, denn allzu oft könnte selbst ich mir eine Flucht nicht erlauben. Der Verstand hat sich dann gegenüber dem Bauch durchgesetzt. Beide Instanzen sind an einem gewöhnlichen Tag an solchen Entscheidungen beteiligt, haben allerdings Bewertungsmaßstäbe unterschiedlicher als die von Männern und Frauen. Der Kompromiss zwischen den beiden ist übrigens meistens: Man wird krank.

Das Zustandekommen dieses Beschäftigungsverhältnisses war ja seinerseits ebenfalls Resultat verschiedener Entscheidungen mit unterschiedlich ausgeprägter Beteiligung der Akteure Verstand und Gefühl gewesen.
Im Grunde lief zunächst alles ab wie immer: Ich hatte mich entschlossen, eine Bewerbung zu schreiben. Ein Jahr später hatten meine jetzigen Chefs dann beschlossen, dass die Zeit gekommen sei, mir zu antworten. Man traf sich, ging wieder auseinander, wenige Tage später stand die Entscheidung. Alles, was ich also noch zu tun hatte: Eine andere Firma um Aufhebung des Vertrages zu bitten, den ich tags zuvor mit ihr geschlossen hatte, weil ich nicht mit einer so raschen Entscheidung gerechnet hatte, man aber nicht immer in der glücklichen Situation ist, sich zurücklehnen und auf das Ende eines Entscheidungsprozesses warten zu können.

Zu meinem Glück wurde die Unübersichtlichkeit dieser Gemengelage nicht noch unnötig durch diffuse Gefühlsregungen vergrößert. Denn wenn man sich für die Stelle entscheidet, bei der man für weniger Wochenarbeitszeit mehr Geld erhält und noch dazu einen kürzeren Weg zum Betrieb hat, benötigt der Verstand keine besonders große Mühe, sich gegenüber dem Bauch durchzusetzen.

Nicht immer wird einem eine Entscheidung ähnlich leichtgemacht. „An den Scheidewegen des Lebens“, formulierte Charlie Chaplin einst treffsicher, „stehen keine Wegweiser.“ Das ist bedauerlich, da ich mich zur Zeit mit der Frage quäle, ob und in welchem Ausmaß es noch irgendjemandem einschließlich meiner selbst irgendetwas bringt, dass ich nach Feierabend und jedes zweite Wochenende für Dienstleistungen rund um Luftballons zur Verfügung stehe. Mein Sohn, für den ich an den anderen Wochenenden zur Verfügung stehe, liebt Luftballons wie ich. Wie lange er das noch tut, steht auf einem anderen Blatt. Gegenüber der Zeit von vor drei Jahren – damals war die Trennung relativ frisch – ist das Interesse jedenfalls inzwischen deutlich zugunsten der Spielekonsole gesunken. Ein seinerzeit zusätzliches Motiv, das Gewerbe aufrechtzuerhalten, war die zumindest theoretische Möglichkeit, irgendwo während meiner Einsätze Frauen kennenzulernen. Um aber als Ballonkünstler nicht nur einmal gebucht zu werden, konnte ich diesbezüglich auch wiederum nicht allzu offensiv agieren.

Inzwischen habe ich mein Repertoire an Freizeitaktivitäten erweitert, Frauen allerdings bis jetzt hier wie dort nicht kennengelernt. Aber: Auch wenn es nicht eilt, kann ich mich nicht mehr allzu lange vor einer Entscheidung drücken. Bloggen oder Ballonen? Für beides scheint die Zeit nicht auszureichen. Eine Nacht drüber zu schlafen, ist hier auch nicht die richtige Antwort. Jedenfalls hatte ich schon einige Nächte Zeit, ohne dass ich entscheidend weitergekommen wäre.

Nicht wenige Menschen erheben die Entscheidungsfindung in den Rang einer Kunst. Das würde zumindest die übermäßige Dauer mancher Entscheidungsprozesse erklären, auch wenn es so mit Sicherheit nicht gemeint war. Eine andere Meinung: Es gebe überhaupt keine richtigen oder falschen Entscheidungen, sondern nur kluge. Zwischen richtig und falsch entscheidet mangels Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, einzig die Zeit. Ich entscheide mich dafür, dieser Sichtweise zu folgen. Mehr kann ich jetzt und hier nicht tun.

Denn wüsste ich, was mich in der näheren Zukunft erwartet, könnte ich zum Beispiel auch besser darüber urteilen, ob dieser Blog hier nur eine kurzfristige Phase des Zeitvertreibs ist oder ob darüber hinaus auch eine Perspektive zu erwarten ist. Perspektive in diesem Sinn wären mehr Leser, wären Lesungen vor Publikum, wäre am Ende eventuell sogar sowas wie ein Taschengeld für meine Bemühungen, hier regelmäßig mittlere bis gute Texte abzuliefern.

Aber klar. Das sind Wünsche. Wünschen tut man sich ja so einiges. Unsterblichkeit zum Beispiel gehört in diese Kategorie. Im übertragenen Sinn natürlich. Also dadurch, dass man nach seinem Ableben etwas hinterlässt, das die Zeit überdauert. Biologisch betrachtet wäre Unsterblichkeit erstens langweilig und würde zweitens zeitlich trotzdem nicht reichen, Eintracht Frankfurt nochmal als Deutschen Meister zu erleben. Die bisher einzige Gelegenheit, das zu meinen Lebzeiten genießen zu können, wurde übrigens ausgerechnet durch eine Fehlentscheidung zunichte gemacht. Weil der Schiedsrichter in der entscheidenden Begegnung der Spielzeit 1992/92 das eindeutigste Foul der Fußballgeschichte nicht mit Strafstoß ahndete. Auch das gehört bei Entscheidungen dazu: Sich darüber im Klaren zu sein, dass sie sich später als ungünstig herausstellen kann, sie in jenem Moment aber trotzdem zu treffen. Der zuständige Spielleiter hat gleich im Anschluss bei näherer Betrachtung der Aufnahmen zugeben müssen, dass er verkehrt lag. Die Begrüßung war später meist alles andere als wohlwollend, wenn er Spiele der Eintracht pfiff, aber er hat deswegen – natürlich – nicht aufgehört, Schiedsrichter zu sein.

Immerhin hat er diesem Text zu einem Schlussgedanken verholfen, der da lautet:
Da in dem Moment, in dem eine Entscheidung getroffen wird, oft gute Gründe dafür existieren, exakt so und nicht anders zu handeln, ist man meistens schlecht beraten, es ein Leben lang zu bereuen, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass andere Optionen besser gewesen wären. Das kostet bloß Energie.

Ich jedenfalls entschließe mich dazu, den Blogeintrag jetzt genau so zu veröffentlichen.