Unsitte. Entgegen etlichen anderen Ausdrücken kann man sich bei diesem Wort einen neutralen Gebrauch schon kaum vorstellen. „Unsitte“ ist schon immer mehr Kampfbegriff und beinhaltet einen ganzen Komplex an Werten und Normen. Unsitte werfen die Bewahrer den Modernisierern vor. „Unsitte“ rufen die Gesitteten etwa, wenn im Stadion Pyrotechnik benutzt wird. Oder wenn Apfelwein mit Cola gemischt wird. Kurz: Wer Unsitte sagt, verrät damit, auf welcher Seite er steht.

In vollem Bewusstsein darüber, als altmodisch abgestempelt zu werden, möchte ich hiermit Front machen gegen eine Angelegenheit, die mich persönlich immens stört. Gäbe es den Begriff Unsitte noch nicht, müsste man ihn hierfür erfinden. Denn nie war er so gerechtfertigt wie hier.

Ich bin nämlich des inflationären Gebrauchs des Etikettes „Eilmeldung“ langsam überdrüssig. Bald jeder Furz, den jemand irgendwo auf der Welt lässt, wird umgehend zu einer Eilmeldung hochgejazzt. Ein seit mehreren Wochen vermisster Mann wird tot aufgefunden. Zu spät, um auf diesen Umstand angemessen reagieren zu können, ist es also allemal. Warum also kann diese Nachricht nicht warten, sondern wird als breaking news auf die mobilen Endgeräte dieser Republik gefunkt? Lustig ist das nicht.

Da sich die Mediennutzung so weit verschoben hat, dass die halb- oder ganz-stündlichen regulären Nachrichtensendungen in Radio und TV ohnehin nicht mehr die Rolle von einst spielen, bräuchte man eigentlich sowieso keine Eilmeldungen mehr. Wo Nachrichten ständig sind, ist auch nichts zu unterbrechen.

Andererseits ist natürlich das Gedränge, bei wem eine Information als erstes zu lesen, hören oder sehen gibt, ununterbrochen. Was dazu führt, dass Nachrichten ohne jegliche Relevanz zu Eilmeldungen geadelt werden, damit auch bloß niemand anderes früher das Publikum mit diesem Kram penetriert. Naturkatastrophen, der Beginn militärischer Handlungen, das sind Eilmeldungen wert. Die Rückkehr von Mario Gomez zu einem mittelmäßigen Erstligaverein ist es – bei allem Respekt – nicht!

Ich verbinde mit 2018 natürlich nicht die Hoffnung, dass sich daran viel ändert. Eher steht das Gegenteil zu befürchten, und der Überbietungswettbewerb wird immer skurriler.

Wäre das alles das einzige Ärgernis im Zusammenhang mit Bemühungen, größtmögliches Interesse zu wecken – man könnte sich damit irgendwie noch arrangieren. Doch die Aufmerksamkeitsökonomie treibt ja noch manch andere seltsame Blüte. Seit ich an dieser Stelle regelmäßig Texte veröffentliche, suche ich ja gelegentlich Anregungen, wie das eine oder andere eventuell besser gemacht werden könnte. Natürlich suche ich das dort, wo ich garantiert keine guten Tipps finde, sondern eher Hinweise der Qualitätsklasse „5 einfache Tricks, mit denen Du SOFORT mehr Leser gewinnst“ Konsequenterweise ist der erste dieser Tricks, die Überschriften nach dem gleichen Schema aufzubauen. Statt immer nur zu meckern, habe ich diesmal auch etwas getan und diesen sensationellen Trick gleich ausgetestet. Dies nur als Erläuterung für alle, die sich bis jetzt gefragt haben, was ich diesmal für eine merkwürdige Überschrift gewählt habe.

Klingt auch eigentlich nicht ´mal ganz schlecht. Kann man so machen. Zumindest sofern man bei seinen Texten keinen Mindestehrgeiz an Originalität und geistiger Reife hat. Die besondere Tragik liegt leider darin, dass dieser unbedingte Wille zur Austauschbarkeit in der Tat sein Publikum findet. Die Reichweite lügt nicht.

Komplexe neue Welt

Aufmerksame Beobachter dürften inzwischen den Verdacht bestätigt sehen, dass mit der Ablösung von „Inhalt“ durch „content“ nach und nach auch der Anspruch an die Qualität des Inhalts verloren gegangen ist. Entscheidend scheint nicht mehr, was veröffentlicht wird, sondern dass veröffentlicht wird. Und nicht nur die Kulturpessimisten wundern sich, warum ein paar Menschen gescheiter werden, während die große Masse dümmer wird. Anderen wiederum kommt gerade letzteres sehr entgegen. Dabei hatte man einst das emanzipatorische Potential des www durchaus gefeiert. „Komplexe neue Welt“, denke ich mir während ich die Gedanken dazu in einen Topf werfe und unter gelegentlichem Rühren bis zur gewünschten Konsistenz zu einem breiigen Gebilde verarbeite. Was bleibt einem auch sonst übrig, wenn man selbst im Tauziehen um Aufmerksamkeit nicht nur mit den besten Freunden oder dem Nachbarn, sondern genauso mit Parteien und Großkonzernen konkurriert. Um hier nur einige wenige Akteure genannt zu haben.

Was bleibt, was kommt? Wer vermag das schon zuverlässig vorauszusagen? Man kann sich eine Zeit zurückwünschen, in der sich einem Zuviel an unerwünschter Information durch einen profanen „Bitte keine Werbung“-Aufkleber auf dem Briefkasten einigermaßen erfolgreich entgegenwirken ließ. So einfach wird es nie wieder sein. Und Wünschen hilft sowieso ungefähr so effektiv wie Beten.

Ab und zu Gehirn einschalten scheint mir da schon erfolgversprechender.

Eignet sich übrigens auch ideal als Vorsatz fürs neue Jahr.

Ich sag´s nur ´mal so.