„Bei Dir kann ich mir inzwischen alles vorstellen.“
Es reichten ein bis maximal zwei Mikrosekunden, um zu erkennen, dass der soeben ausgesprochene Satz wohl eher kein Meilenstein der Diplomatie von mir gewesen ist. Grenzwertig wäre treffender. Zumal wenn der an sich harmlose Gesamtzusammenhang einbezogen wird: „Die Katzen haben mich nicht geweckt. Ich habe bis 11 Uhr geschlafen. Kannst Du Dir das vorstellen?“

Es kommt ja noch verschärfend hinzu, dass dieser Dialog nach erst einer Woche des Kennenlernens im Rahmen des zweiten persönlichen Aufeinandertreffens stattfand. Nein, ich fürchte, das ist nicht das, was sie in jenem Moment hören wollte. Das ist nicht das, was auch nur irgendeine Frau als Antwort würde hören wollen. Dabei war sie es doch gewesen, die von mir mehr Spontanität eingefordert hatte. Weil Geduld ja zu den Primärtugenden jeder Frau gehört, ist ihr offenbar auf den Zeiger gegangen, dass ich häufig länger überlege als dem Gesprächsfluss gut tut, bis ich einen Satz herausbringe. (Der dann aber wenigstens auch druckreif ist.)

Dabei weiß ich an und für sich, dass ich meine stärksten Momente dann habe, wenn ich spontan und unüberlegt losrede oder handele. Blöderweise habe ich aber auch meine schwächsten Momente, wenn ich spontan und unüberlegt losrede oder handele. Also muss schon eine besondere Atmosphäre des Vertrauens herrschen, wenn ich meine Bedenken, einen unpassenden Spruch zu machen, hintanstelle und einfach ´mal ungefiltert ausspreche was ich denke.

Aber versucht ´mal
1. in dieser Situation
2. einer Frau
zu erklären, dass meine Antwort aus diesem Grund tief in meinem Herzen Ausdruck einer extrem hohen Wertschätzung ist. Richtig: Es kann nur schiefgehen, und mit jedem Wort, das Du jetzt noch aussprichst, reitest Du Dich weiter in die Scheiße ´rein. Relativ spontan erinnere ich mich daran, wie ich in einem früheren Leben meinem Körper regelmäßig gewaltige Mengen Alkohol zugeführt habe, um vor mir selbst auch ´mal fünf gerade sein zu lassen. Die Methode war bombensicher, denn wenn mein spontanes Tun nicht auf ungeteilte Gegenliebe gestoßen war, hatte ich wenigstens spontan die passende Entschuldigung.

Zum Gespött machen kann man sich allerdings sehr wohl auch, ohne zu trinken. Als ich mich das letzte Mal blamiert habe, weil ich Unüberlegtes getan habe, spielte ebenfalls mein Mund eine entscheidende Rolle. Aber nicht um etwas zu sagen, sondern um dort einige mit Schokolade ummantelte Erdnüsse hineinzuschieben. Als ich erkannte, dass es sich bei den ummantelten Erdnüssen um Oliven handelte, die ich praktisch gar nicht esse, hatte ich dann buchstäblich den Salat. Denn getreu dem Motto „Klotzen, nicht kleckern“ hatte ich mir eine große Handvoll davon gegriffen. Und die mussten jetzt irgendwohin, egal wohin. Alles außer meinem Mund war erlaubt.
Also habe ich mich zunächst ´mal allein in eine Ecke gesetzt.
Es war dunkel, es war eine Party. Und seit ich nicht mehr trank, stand ich bei solchen Gelegenheiten auch viel seltener im Mittelpunkt des Geschehens. Deswegen hatte auch niemand von meinem Fehlgriff Notiz genommen. Und je weiter der Abend voranschreiten würde, umso häufiger würden dank der Macht des Alkohols noch weitere solch spontaner Aktionen wie Oliven in der Blumenvase stattfinden, ohne dass es jemand als anstößig empfinden wird. Dieses Problem hatte ich gelöst, nicht aber das grundsätzliche mit meinen Schnellschüssen.

Was läuft verkehrt?

Natürlich bin ich zuzugeben bereit, dass irgendwas in meiner Entwicklung schief gelaufen sein könnte, eigentlich sogar muss, wenn ich mich spontan an etliche Fettnäpfchen erinnern kann, nicht aber an meine größten Erfolge, wenn ich ´mal ohne vorher einen inneren Dialog zu führen gehandelt habe. Na gut, eine Sache vielleicht: Wie ich bei der Maifeier des DGB während der Podiumsdiskussion spontan den Stecker gezogen habe, ist mir aus irgendeinem Grund in Erinnerung geblieben.

Trotzdem sollte ich demnächst ernsthaft ein paar Gedanken darüber verschwenden, ob meine bisherige Maxime, wonach Spontanität wohlüberlegt sein sollte, sich im Laufe der Jahrzehnte eventuell etwas aufgebraucht hat. Denn immerhin ist es ja kein Einzelfall, dass eine Frau, die ich gerade kennenlerne, mir „vorwirft“, stets ein wenig besonnen zu sein. Und solche Sachen arbeiten sich ja tief in mein Selbstverständnis hinein. Bin ich am Ende tatsächlich uncool geworden? Was heißt das eigentlich, wenn man mit 45 uncool ist? Wie so oft habe ich mehr Fragen als Antworten.

Spontanität erfordert manchmal Mut. Davon stünde mir etwas mehr mit Sicherheit gut zu Gesicht. Es kann aber natürlich auch sein, dass Spontanität für die Leute nur exakt so lange geil ist, wie ich spontan das tue, was sie für richtig halten. Ansonsten wird es gern mal „naiv“. Was ja der kleine Bruder von spontan und mutig ist. Beispiel: Sollte ich bei einem Besuch eines Fußballspiels das dringende Bedürfnis haben, im Fanblock der Heim-Mannschaft ganz spontan ein Tor des Gastes ordentlich zu feiern, wäre das einerseits mutig, andererseits naiv. Polonäse im Fanblock funktioniert allein ungefähr so gut wie auf dem Feld ein Doppelpass mit sich selbst: Man wird damit nicht weit kommen.
Aber wer entscheidet, ob etwas richtig oder falsch ist? Generell kann Spontanität ohne ein dahinterstehendes Wertesystem kaum gedacht werden. Andernfalls würden hier täglich vermutlich mehr Leute spontan ihren Nachbarn am nächsten Baum aufknüpfen, weil der Müll nicht korrekt getrennt wurde. Dieses Wertesystem ist individuell verschieden. Was auch gut so ist. Insofern kann ich wiederum gut mit meiner Rolle leben, weil ich einordnen kann, dass die Aufforderung „Sei doch ´mal spontan!“ oft eigentlich nur „Sei doch ´mal, wie ich es gern sehen würde“ bedeutet. Und irgendwann ist man auf einmal unspontan, weil man nicht wie alle anderen lauthals „Atemlos durch die Nacht“ mitgrölt. Wenn Spontanität derart beliebig wird, verzichte ich liebend gern auf diese Eigenschaft und bleibe wie ich bin. Wenn es sein muss, auch ohne Partnerin.

Und irgendwann, wenn es aus dem einen oder anderen Grund sowieso nichts mehr ausmacht, werde ich der eingangs Erwähnten auch spontan beichten, dass ich seinerzeit vier Stunden überlegt habe, mit welchen Worten ich sie am besten anschreibe.
Beziehungsweise hat sie es ja jetzt sowieso schon gelesen.
Das kommt davon, wenn man die Sätze so unbedacht herausrotzt.