Mancher hat es bereits wieder hinter sich, die Disziplinierteren dagegen befinden sich gerade mittendrin: Da vor kurzem ein neues Jahr das alte abgelöst hat, ist allenthalben wieder Durchstarten angesagt. Zwar wartet man bislang vergeblich darauf, dass böse Vorsätze gesellschaftlich genauso anerkannt werden wie gute. Irgendwie mitmachen wollen dennoch die meisten.

Auch ich habe mir wieder vorgenommen, meine Komfortzone in den nächsten zwölf Monaten das ein ums andere Mal zu verlassen. Nichts mit guten oder schlechten Vorsätzen zu tun hat dagegen, dass ich mir fast pünktlich zum Jahreswechsel eine Schutzausrüstung für meine Inline Skates zugelegt habe. Dass zwischen dem Überlassen-bekommen-Haben eines Paars dieser Teile und dem letztendlichen Kauf der Gelenkschoner, ohne die mir das Fahren damit bislang als zu gefährlich erschien, inzwischen mehr als 15 Jahre liegen, dürfte Beleg genug dafür sein, dass der Kauf eher zufällig zeitlich mit dem Jahreswechsel zusammenfiel. Berücksichtigt man ferner, dass ich selbst nach diesen 15 Jahren immer noch keine Schutzausrüstung hätte, wenn sie mir nicht zufällig gebraucht für 2 Euro über den Weg gelaufen wäre, wird man mir vieles unterstellen können, aber gewiss keinen Vorsatz.

Zwar bin ich nach wie vor der Ansicht, dass der Vorsatz meist so gut nicht sein kann, wenn man von der Idee bis zur Umsetzung lieber noch ein bestimmtes Datum abwarten will. Dennoch war die bis jetzt überraschendste Erkenntnis des Jahres: Irgendwie scheine ich meinen Frieden mit Neujahrsvorsätzen geschlossen zu haben. Man verändert sich ja sowieso permanent, ganz gleich ob man das nun möchte oder nicht und unabhängig davon, ob man es bemerkt oder nicht. Bevor man sich am Ende des Jahres dann wieder ärgert, wie kacke die vergangenen zwölf Monate doch wieder waren, kann man dieser Veränderung ja eine Richtung geben, von der man vermutet, sie würde einem gut zu Gesicht stehen.

Das führt mich zu einem Thema, von dem ich mir manchmal wünschte, es niemals entdeckt zu haben. Es gibt nämlich Menschen, die sich um die Persönlichkeitsentwicklung Anderer viele Gedanken machen. Sogar das ganze Jahr über.

Disziplin, Motivation, Kommunikation, Erfolg, Glück – Selbstverbesserungsprojekte gibt es zuhauf. Weshalb ich in einer gewissen Phase meines Lebens auf diese Szene gestoßen und trotz gewisser Vorbehalte von manchen dieser Konzepte recht angetan war.

Trotz Versprechen der Güteklasse „Sofort mehr Selbstbewusstsein ausstrahlen mit diesen simplen Tricks“ überwog die Neugier die Skepsis. Natürlich war besagte Phase nicht kritisch genug, dass mir nicht sofort aufgefallen wäre: Das letzte, das unsere Gesellschaft zur Zeit und sehr wahrscheinlich auch in Zukunft braucht, sind noch mehr Typen, deren Selbstbewusstsein in keinem angemessenen Verhältnis zu ihren Kenntnissen, Fähig- und Fertigkeiten steht. Die dringender bei einem Psychiater auf der Couch als bei einem Trainer oder Coach aufgehoben wären, weil sie auf dem schmalen Grat zwischen Selbstbewusstsein und Selbstüberschätzung reichlich Schlagseite bekommen haben. Doch das alles tat der guten Stimmung zunächst keinen Abbruch.

Selbst die den meisten dieser Selbstoptimierungskonzepte zugrundeliegende unkritische Nähe zur Leistungsgesellschaft vermochte mein Interesse nicht zu bremsen. Obwohl mir doch vormals diejenigen, die das Ziel maximalen (beruflichen) Erfolgs am intensivsten verfolgten, stets sehr suspekt gewesen sind. Das ist besser zu verstehen, wenn man folgende Hintergründe kennt:

Mein persönliches „Karriereziel“ zwischen 16 und 33 war im Prinzip das Herbeischreiben einer Situation, in der eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung es für völlig normal hält, in Wort und Tat für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur, ohne Grenzen, Rassismus und Sexismus einzutreten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Okay – an die Sache mit dem Sexismus mussten uns unsere Genossinnen das ein ums andere Mal erst erinnern, was an der groben Richtung aber nichts geändert hat. Man kann jedenfalls nicht behaupten, wir hätten keine Ziele gehabt. Disziplin dagegen besaßen nur wenige.

Zu unserem Unverständnis hatten wir mit diesen Ideen eine nicht zu vernachlässigende Menge an Menschen gegen uns, die mit unseren Zielen genauso wenig anfangen konnten wie umgekehrt wir mit der auf individuelles Glück abzielenden Karrieregeilheit der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung.

Nachdem das ursprüngliche Vorhaben also gescheitert war, musste ein Plan B her. Den ich auf die Schnelle nicht hatte. Seitdem bin ich Lagerist, wenn man das grob, aber nicht unzulässig verkürzt zusammenfassen wollte. Vielleicht war ich schlecht beraten. Vielleicht gut. Vielleicht gar nicht. Wer weiß das schon so genau?!

Was aber hat das alles mit 2020 zu tun? Zuallererst: Ich weiß nach all den Jahren zum Beispiel, dass im Gegensatz zu den Versprechen der Motivationscoaches nicht alles Vorstellbare auch erreichbar ist.

Zweitens: Wenn jemand seine Ziele nicht erreicht, kann das daran liegen, dass er es nicht hartnäckig genug versucht hat. Muss es aber nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist sogar sehr hoch, dass andere Gründe für das letztendliche Scheitern ausschlaggebend sind.

Drittens: Niemand hat es nötig, von Leuten, die für einen 45-minütigen Vortrag ein Honorar in Höhe des Monatseinkommens eines Lageristen erhalten, erzählt zu bekommen, dass weniger eigentlich mehr ist, nur weil sie gemerkt haben, dass sie in ihrem Reichtum zu ersticken drohen.

Viertens: Dass Methoden der Stressreduktion inzwischen zum Standardrepertoire der meisten Trainer gehört, könnte damit zu tun haben, dass man die Situation selbst herbeigeführt hat, indem man den Coachees einredet, dass sie „für ihre Sache brennen“ müssen. Muss es aber nicht. Die Wortverwandtschaft mit „ausgebrannt sein“ ist gewiss zufällig.

Fünftens und letztens scheine ich in den letzten Jahren intuitiv nicht wesentlich mehr falsche als richtige Entscheidungen getroffen zu haben. Das heißt nicht, dass überhaupt kein Optimierungsbedarf mehr bestünde. Das heißt aber auch: So schlimm, dass man sich ohne Not irgendwelche dummen Vorsätze ausdenken müsste, ist es auch nicht. Vielleicht sollte man bei allem Veränderungswillen auch das Man-selbst-Bleiben auf der Liste der zu erledigenden Dinge etwas weiter oben platzieren. Gepaart mit einer optimistischen Grundeinstellung wird man das Jahr schon halbwegs anständig über die Bühne bringen.

Im Grunde genommen kann festgehalten werden, dass meine Vorstellungen von Erfolg, meine Definitionen von Glück sowie daraus resultierende Herangehensweisen an gewisse Dinge sich im Vergleich zu meinem 16-jährigen Ich nicht einmal wahnsinnig geändert haben.

Und das ist auch gut so.