Der Satz ist in der Adventszeit weiter verbreitet als Erkältungsviren. Als er diese Woche bei einer Unterhaltung zweier Kolleginnen wieder fiel, war ich dementsprechend kurz davor, laut „BINGO“ zu rufen. Gemessen an meinem Nachbarn sind sie mit dieser Erkenntnis wiederum spät dran. Denn dieser erklärt traditionell schon Mitte November das Jahr als „im Prinzip schon wieder vorbei“, um im nächsten Atemzug die Mutter aller Sätze ´rauszuhauen: „Dieses Jahr ging sooo schnell ´rum.“ Es mag natürlich sein, dass ein Jahr kürzer erscheint, wenn man es wie er sechs Wochen vor Ultimo schon für beendet erklärt. Doch beweist die höchsteigene Erfahrung der vergangenen Jahre den wahren Kern einer solchen Aussage: Dass das alles zwar wissenschaftlich kaum haltbar ist, weil nun einmal jedes Jahr gleich lang ist. (Über Schaltjahre und -sekunden sei in diesem Zusammenhang großzügig hinweggesehen.) Dass das subjektive Empfinden sich demgegenüber aber nur in überschaubarem Ausmaß um physikalische Gesetzmäßigkeiten kümmert. Dass – Konsequenz – je älter man wird, die Erde sich umso schneller um die Sonne zu bewegen scheint.
Wobei ich mich offen gestanden in diesem Jahr über mich selbst wundern muss. Weil dieses Jahr irgendwie anders war. Irgendwie länger als vergleichbare Jahre.
Die Suchmaschine zeigt bei der Recherche nach möglichen Gründen für diesen Befund nicht nur geistreiche Ergebnisse an. Wenn man bedenkt, dass der Begriff „Dschungelcamp“ hierzulande die fünft-häufigste Suchanfrage bei Google ist, löst das natürlich keine große Verwunderung aus. Das Bedürfnis nach schrottigen Informationen muss befriedigt werden. Trotzdem hatte ich mir sattelfestere Erklärungen versprochen als beispielsweise diese hier: Wer alt ist, wird langsamer, braucht für einzelne Tätigkeiten länger, kann also nicht mehr so viel erledigen wie ehedem und denkt daher, die Zeit geht schneller um. An Plausibilität kaum zu überbieten.
Manche verweisen auf die im Alter sinkende durchschnittliche Körpertemperatur. Andere werfen – noch präziser – die Hormone in den Raum. So genau wollte ich es dann doch wieder nicht wissen. „Die Hormone“ sind ja nur für so unterschiedliche Angelegenheiten wie beispielsweise Wachstum, Stoffwechsel und Sexualleben zuständig. Die Aufnahmefähigkeit eines durchschnittlichen Internet-Nutzers reicht wohl gerade für die Information, die Hormone seien schuld. Wozu also weiter in die Tiefe gehen und sich mit Nebensächlichkeiten aufhalten wie zum Beispiel der Frage, um welchen aus der ja doch recht mannigfaltigen Auswahl an Botenstoffen es sich dabei konkret handeln könnte. Da hat sich wohl wieder jemand eine Fachzeitschrift wie die BUNTE unters Kopfkissen gelegt und die Essenz des auf diese Weise über Nacht Gelernten am nächsten Morgen auf die Tastatur gespeit. Ich komme mir vor wie bei Woody Allen und seiner Zusammenfassung von „Krieg und Frieden“ nach einem Schnelllesekurs: „Es geht um Russland.“
Wiederum andere Deutungen beziehen ein Jahr auf die Gesamtanzahl gelebter Jahre einer Person. Nach dieser Lesart ist ein Jahr für einen Zehnjährigen eben ein Zehntel seines Lebens, für einen 65-Jährigen jedoch ein bedeutend geringerer Anteil an seinem bisherigen Dasein. Immerhin klingt das bis jetzt plausibler als die bisher skizzierten Erklärungsansätze. Da man allerdings getrost unterstellen kann, dass es mir auch dieses Jahr nicht gelungen ist, die Zahl meiner Lebensjahre zu verringern, erübrigt sich auch diese Interpretation. Schließlich halte ich nach wie vor daran fest, dass mir das Jahr länger vorkommt als frühere. Darüber hinaus kommen ja auch noch ein paar Tage dazu.
Des Rätsels Lösung sehr nahe
scheinen psychologische Denkansätze, die auf die Rolle neuer Erfahrungen abzielen. „Neuartige Erlebnisse dehnen im Rückblick die Zeit.“ Bei einem jungen Menschen kommen im Laufe eines Jahres durchschnittlich mehr vorher unbekannte Eindrücke zusammen als bei einem routiniert auf Autopilot navigierenden 45-Jährigen. Was immerhin Hoffnung auf längere Jahre im Ruhestand lässt, wenn wieder Zeit für neue Erfahrungen vorhanden ist. Ich habe es zwar so nirgends bestätigt gesehen, doch zumindest die Frage sollte gestellt werden dürfen, ob es sich so gesehen positiv auf die wahrgenommene Zeit auswirkt, wenn das Gedächtnis irgendwann nachlässt und man also theoretisch wieder neue Erfahrungen macht, obwohl man das Gleiche schon einmal erlebt hat.
Bis es so weit ist, sollten wir also wo und wann immer es sich anbietet abwechslungsreiche, neue Erfahrungen generieren – „vor allem solche, die mit großen Gefühlen verbunden sind.“ Das Paradoxon, dass in dem konkreten Augenblick des Erlebens die Zeit exakt andersherum wahrgenommen wird als in der Rückbetrachtung, wird übrigens berücksichtigt: Langweilige Momente dauern Ewigkeiten, doch hinterher ist alles rasend schnell vorübergegangen. Umgekehrt geht die Zeit bei anregenden Erlebnissen schneller als einem lieb ist vorüber, was aber später durch besagte Dehnung der Zeit wieder wettgemacht wird.
Das erklärt natürlich alles nicht, wieso ein Fußballspiel beim Stand von 2:1 die 5 Minuten Nachspielzeit die gefühlt längsten zehn Minuten meines Lebens sind, aber alles in allem sieht es stark danach aus, dass ich hiermit die Erklärung gefunden habe, die mir am besten gefällt.
Jetzt ist natürlich nicht für jeden eine ernstzunehmende Option, sich öfter ´mal frisch zu verlieben, ein Studium aufzunehmen, eine Kreuzfahrt zu machen oder auszuwandern. Eine hohe Ereignisdichte schaffen, einfach ´mal wieder etwas anders oder etwas anderes machen als üblicherweise, die berühmt-berüchtigte Komfortzone verlassen – das ist natürlich leichter gesagt als getan, wenn man Tag für Tag auf der Arbeit verbringt und dafür eventuell nicht einmal so viel Gage mit heim bringt, dass damit diese beabsichtigte Abwechslung auch zu finanzieren wäre.
Aber Neues zu lernen, unübliche Orte aufzusuchen, interessante und aufschlussreiche Begegnungen und Gespräche zu suchen sind ja keine gänzlich unlösbaren Probleme. Zudem vielleicht nicht die schlechtesten Vorsätze für 2018, sofern noch keine anderen vorhanden.
Angesichts der zahlreichen Aktivitäten, die ich in diesem Jahr mit und ohne Kind unternommen habe, könnte man meinen, dass ich das erste Mal im Leben intuitiv das Richtige gemacht habe. Das wäre in der Tat bahnbrechend! Zoo, Parks, Feste, Konzerte, Lesungen, das alles sind ja keine Meilensteine, sondern so unspektakulär wie es klingt. Und hat doch einen so nachhaltigen Effekt erzielt. Nicht völlig aus der Luft gegriffen, dass auch die fruchtbare Beschäftigung mit den Blogeinträgen ihren Beitrag zu diesem erfreulichen Resümee geleistet hat.
Insofern kann und soll dieser Text als ein eindeutiges Plädoyer für mehr Aktivität verstanden werden, gleichgültig welcher Altersklasse man angehört.
Bevor allerdings der Kalender fürs nächste Jahr noch mehr zugeballert wird, sei darauf hingewiesen, dass die Balance zwischen Action und Achtsamkeit entscheidet, ob einem Aktivitäten gut tun.
Wenn ich in einem Jahr also an gleicher Stelle das Thema Stress behandeln sollte, wird das Verhältnis nicht so ausgewogen gewesen sein wie erhofft…
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