Irgendwann in der Mitte dieses gerade auslaufenden Jahres muss es gewesen sein, dass ich in einer Talkshow die Kelly Family gesehen habe, wie sie verkünden, dass sie – nicht ganz vollzählig zwar, aber immerhin – wieder zusammen musizieren. Und weil eine gute Talkshow neben der Unterhaltung hauptsächlich dem Zweck dient, die Gäste zu promoten, boten sie in der Sendung auch recht bald eine Kostprobe ihres musikalischen Ausstoßes.

Ich war entsetzt.

Entsetzt über mich, weil ich das nicht einmal so schlecht fand.

Jetzt ist es natürlich gewiss nicht so, dass meine persönliche Jahresbilanz durch diesen Vorfall ganz konkret besser oder schlechter würde. Eher ist es so ein diffuses „Was hat die Zeit bloß mit mir gemacht“-Gefühl, das sich über die Jahresendzeitstimmung legt.

Über Jugendsünden wird viel geredet, Altersweisheit ist ein ebenso gern und häufig verwendeter Begriff, doch fast niemand spricht über Alterssünden. Ganz so als ob man mit den Lebensjahren einen Zustand erworben hat, in dem man über den Dingen steht und das (nicht nur musikalische) Urteilsvermögen unfehlbar würde. Welche Rolle spielt es da schon, dass die theoretische Chance, sich anhand der im Laufe der Jahre gewonnenen Erfahrungen ein ausgewogenes Urteil bilden zu können, von gefühlt gerade drei Prozent aller Menschen genutzt wird. Die Mehrheit dagegen übt sich in Altersstarrsinn, was bedeutet: Sie könnte es besser wissen, pfeift aber auf dieses Können.

Pfeifen wir auf mein altersmildes Urteil über die Kelly Family, doch bleiben wir beim spannenden Thema Musik und Jugendsünden. Hierzu bleibt festzuhalten, dass ich mir im Prinzip wenig vorzuwerfen hätte.

Wäre da nicht diese eine Sache.

Fun-Punk.

Der kleine vorlaute Bruder des zwischen kämpferisch und schwarzmalerisch changierenden Polit-Punks schrieb sich die Parole Party auf die Fahnen und gebar Kapellen mit übertrieben bescheuerten Namen wie Abstürzende Brieftauben oder Schließmuskel. Sehr beliebt waren Kombinationen aus den Bestandteilen Bestimmter Artikel + Adjektiv + ein nicht zwingend dazu passendes Hauptwort: Die leeren Versprechungen zum Beispiel. Wie sehr hier der Name schon Programm ist, ergab sich für mich leider erst mit ein wenig zeitlichem Abstand. Gern genannt werden in diesem Zusammenhang auch Die Goldenen Zitronen, die sich allerdings bereits sehr schnell von ihrem Frühwerk distanzierten. In ziemlich genau dem Moment nämlich, in dem die Musikindustrie den Fun-Punk für sich zu vereinnahmen begann und nicht weniger als eine zweite NDW loszutreten plante. Die Toten Hosen dagegen beweisen bis heute, dass ein schlechter Bandname kein Hindernis auf dem Weg nach ganz oben sein muss. Allein mit Liedgut wie „Eisgekühlter Bommerlunder“ wäre dieser Weg freilich alsbald in derselben Sackgasse geendet wie der von hunderten anderen Truppen.

Die für meine Ohren schmerzhafte Erfahrung, dass ein missratener Bandname allein noch keinen amtlichen Fun-Punk garantiert, machte ich, als ich mir ein Album der Angefahrenen Schulkinder zulegte. Von Slogans wie „Tötet Onkel Dittmeyer“ in die Irre geleitet, musste ich feststellen, dass diese Form von Comedy-Theater mitunter genauso zotig, aber leider ganz und gar kein Punk war. Für meinen jugendlichen Geldbeutel war das noch bitterer als für meine Ohren. Da war leider der Spaß vorbei! Wir rechneten ja zu dieser Zeit jeden Geldbetrag in die harte Währung Bierbüchsen um. Hätten wir nicht etwas Geld für Freibad, Konzerte oder eben Tonträger benötigt, hätten unsere Eltern das Taschengeld auch gern in Dosenbier auszahlen können. Für den Gegenwert dieses Fehlkaufs hätte ich jedenfalls einige davon bekommen können und hätte definitiv mehr davon gehabt.

Tonnenweise Dosenbier

Von Dosenbier sangen auch NoRMAhL, die in ihren Ursprüngen das Beste aus beiden Welten bot, die Polit- mit der Spaßfraktion der Punker vereinte, mit der Zeit aber zunehmend unerträglicher wurden, weil das Repertoire zu viel „Biervampir“ und zu wenig „Bandiera rossa“ bereithielt. Inzwischen spielen auch sie seit einigen Jahren wieder, und ein Weggefährte aus dieser Zeit weiß bei unseren sehr gelegentlichen zufälligen Begegnungen regelmäßig einen ihrer Konzerttermine in der Nähe. Aber es würde sich heute nicht mehr echt anfühlen, einen dieser Auftritte zu besuchen. Klingt esoterisch, ist aber so. Und wird auch nicht dadurch schlüssiger, dass die Aussage von jemandem kommt, der mit 45 Jahren immer noch auf der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft ist. Aber das wiederum gäbe genügend Stoff für einen eigenen Blogeintrag. Oder mehrere. Oder ist das der eigentliche rote Faden des Meilensteinbildhauers: Das niemals abgeschlossene Coming of Age des Protagonisten?

Zum Erwachsenwerden gehört das Austesten dazu, wie viele Dosenbiere in einen einzelnen Menschen hineingehen. Als Angehöriger bestimmter jugendlicher Subkulturen hat man für solcherlei Experimente ausreichend Gelegenheiten, weil im Prinzip das ganze Jahr über Karneval ist. Aber was hat man sich dabei eigentlich gedacht? Gestartet gegen so ziemlich alles, galt der ausgestreckte Mittelfinger der Punks dem bürgerlichen Faschingstreiben doch mindestens genauso wie ihren sonstigen Gebräuchen. Dass das Treiben der Bunthaarigen an und für sich hervorragend in die Szenerie der angepassten Teilzeittrinker zur närrischen Zeit gepasst hat – wollte oder konnte ich das in dieser Zeit nicht raffen? So gesehen wurde bürgerliches Verhalten eher imitiert als persifliert. Es hätte einem zumindest zu denken geben sollen, was für skurrile Leute da plötzlich alle mit auf die Konzerte gingen. Leute, die ohne jeden Anflug von Ironie Oberlippenbärte trugen und manche Geschmacklosigkeit mehr begingen. Der kleinste gemeinsame Nenner war Saufen und Ficken. Ersteres war durchweg gängige Alltagspraxis, dem anderen Element wurde sich eher theoretisch angenähert, dies aber nur nebenbei. Was Fun-Punk von karnevaleskem Schlager oder Après-Ski-Hütten-Sause-Musik unterschied, war neben verzerrten Gitarren hauptsächlich, dass man solch pubertäre Einlagen den jugendlichen Hirnen noch etwas eher verzeihen konnte als erwachsenen Unterhaltungs-Profis.

Einmal Jugend und zurück

Wie es im Leben manchmal so ist: Da lässt man eine Sache ´mal kurz für 30 bis 40 Jahre aus den Augen, und kaum dass man wieder hinsieht, ist alles auf den Kopf gestellt: Weil viele seiner Angehörigen ihr Nimmerland über all die ganzen Jahre nicht verlassen haben oder nach einiger Zeit wieder dorthin zurückgekehrt sind, ist Punk inzwischen von der einstigen Jugendbewegung teilweise zu einer Seniorenbewegung geworden. Das muss nichts Schlechtes heißen. Schließlich sind nicht alle älteren Menschen mit einem Nachmittag beim Bingo zufriedenzustellen. Allerdings hat manche Punkrockband ihren eigenen Legendenstatus dadurch demontiert, dass man ohne echte Not relativ uninspiriert wieder die Instrumente umschnallte und drauflosballerte. Wie früher eben, nur nicht mehr so authentisch. Und weil es sich so gut ergänzt, dass sowohl das jüngere als auch das betagtere Publikum ebenfalls nur wegen der alten Hits die Fäuste reckt, verkommen manche Musikanten als ihre eigene Coverband mit enorm hohem Fremdschämfaktor. Das mag für einen Abend aushaltbar sein, aber taugt das auch für einen kompletten Lebensentwurf?

Dabei geht es um so viel mehr als bloß Musik und die Diskussion, welche der Bands von damals heute noch hörbar sind. Die gibt es nämlich reichlich! Mindestens einmal im Leben stellt sich aber doch die Frage: Bleibt man sich selbst treu oder sorgt die notwendige Weiterentwicklung des Einzelnen irgendwann von selbst und zwangsläufig für das Verlassen des aktuell eingeschlagenen Weges? Man muss übrigens auch gar nicht erst so tun, als wären die Antworten auf diese Frage stets Ergebnisse bewusster Entscheidungen. Gemeinsam ist beiden Wegen immerhin das Beklagen, dass früher alles besser gewesen sei. „Wirst Du eigentlich nie erwachsen?“ Wie so häufig gibt es auch hierzu keine richtige oder verkehrte Erwiderung. Im Einzelfall durchaus als Lob zu betrachten, eine schöne Eigenschaft, die zu besitzen ich mir selbst für den Rest des Lebens wünschte, wenn mir eine Fee oder von mir aus auch ein Flaschengeist einen Wunsch gestatten würde. Wer aber in einem Alter um die 50 immer noch Schlagerpunk mit den gleichen pubertären und schlüpfrigen Texte wie ehedem hört oder gar selbst komponiert, wurde von der allgemeinen Entwicklung wohl abgehängt und sollte dem der Frage konnotierten Vorwurf eventuell ´mal nachgehen.

Otto Rehagel würde es wie folgt kommentieren: „Es gibt nicht alt oder jung, sondern nur gut oder schlecht.“ So einfach ist die Welt. Es muss nur ein Fußballtrainer kommen, um sie zu erklären.