Sämtliche Frühwarnsysteme, die unsere heutige Gesellschaft für diesen Fall eingerichtet hat, haben versagt: Kein Blick in den Kalender konnte den Blick dafür erhellen, und als Lebkuchen, Zimtsterne und Spekulatius in die Regale der Supermärkte einzogen, durften diese an sich schwer zu ignorierenden Vorboten dennoch als die übliche Panikmache abgetan werden. Schließlich stand gefühlt das Getreide noch auf den Feldern, hatten die Freibäder noch längst nicht geschlossen und wurden diese bei Temperaturen bis 25 Grad auch noch rege besucht.
Wie über Nacht wurden dann Fenster, Balkone, Häuser, Vorgärten, Stadtteile illuminiert. Pilzen gleich eröffneten die Glühweinmärkte bei „für die Jahreszeit zu warmen“ Temperaturen. Und spätestens jetzt wird nach Begegnungen mit Freunden und Verwandten bei der Verabschiedung die Floskel „…und falls wir uns nicht mehr sehen…“ unausweichlich und ein guter Rutsch oder dergleichen mehr gewünscht. Allerspätestens jetzt muss man den Tatsachen ins Auge blicken. Jegliches Erkenntnisinteresse wird zugunsten der drei ab sofort alles beherrschenden quälenden Fragen ins zweite Glied gestellt:
- Schon alle Geschenke gekauft?
- Was machst Du an Silvester?
- War das fast abgelaufene Jahr jetzt eigentlich für irgendetwas gut?
Fast bekomme ich meiner Umwelt gegenüber ein leicht schlechtes Gewissen bei der Feststellung, daß ich an eineinhalb dieser Standards schon Haken setzen kann: In der privilegierten Situation, lediglich meine Mutter und meinen Sohn beschenken zu müssen, fehlt mir an Geschenken nur noch die Hälfte. Ach – was sage ich? – die Hälfte habe ich bereits, das klingt so viel besser, dynamischer und zudem nach richtig viel investierter Zeit, auch wenn der Kleine mit seinen viereinhalb Jahren noch ansatzweise einfach zufriedenzustellen ist.
Derselbe Kleine ist auch der Grund, weshalb sich die Frage nach Aktivitäten zu Silvester in diesem Jahr gar nicht stellt. Die Dramaturgie des Zufalls hat die Nacht der Nächte nämlich auf mein Papa-Wochenende gelegt. Demnach habe ich ab sofort den Kopf frei, um Bilanzen zu ziehen und neue Pläne zu schmieden.
Für den ersten Teil dieser Aufgabe ist ein Jahreswechsel vermutlich die richtige Grundlage: ein überschaubarer Zeitraum weder zu kurz noch zu lang lädt ein, diesen Abschnitt vorangegangenen gegenüberzustellen und anschließend den Daumen zu heben oder zu senken. Ob dabei die Beurteilung nach der Formel “Glück ist die Abwesenheit von Unglück” oder “Glück gleich Realität minus Erwartungen” oder nach irgendeinem anderen Maßstab vorgenommen wird, bleibt gleich. Objektivität gibt es hierbei ohnehin nicht.
Der vornehmere Teil der Aufgabe, nämlich aus der Bilanz die richtigen Schlüsse zu ziehen, ist Jahr für Jahr erneut Thema ungezählter Beiträge in Wort, Bild und Schrift. Trotzdem haben Vorsätze fürs neue Jahr nur höchst selten eine Halbwertszeit von mehr als bloß ein paar Tagen.
Da ich bis heute nichts von Vorsätzen mit Stichtagsregelung halte, habe ich stattdessen seit einiger Zeit eine Zielcollage in die Küche gehängt. Was endgültig umgesetzt ist, wird durch ein neues Vorhaben ersetzt. Während bei manch anderem also ab Mitte Januar ob nicht umgesetzter Pläne das ganze Jahr über Missmut herrscht, habe ich das ganze Jahr über reichlich Stimuli. Manches wartet länger auf Umsetzung, ist aber durch die Collage automatisch permanent auf Wiedervorlage gelegt. Und hin und wieder geschieht es, daß ich nach einer gelungenen Umsetzung von einem Meilenstein spreche.
Mit dem Begriff des Meilensteins freilich gilt es sorgfältig umzugehen: er sollte weder zu sparsam noch zu inflationär verwendet werden. Bescheiden wie ich nun aber schon immer gewesen bin, attestiere ich mir selbst, hierbei bislang noch das rechte Maß behalten zu haben. Im Laufe der Zeit habe ich mich auf diese Weise zu etwas entwickelt, wofür mir vor ein paar Wochen als passende Beschreibung die Konstruktion Meilensteinbildhauer ganz gut gefallen hat. Ich sorge dafür, übers Jahr verteilt in ausreichendem Maß Meilensteine zu schaffen. Der Start dieses Blogs ist einer davon.
Gegenstand der hier zu versammelnden Texte werden Alltagsbegebenheiten sein. Teils ernsthaft, teils heiter kommentiert, aber hoffentlich stets mit einem gewissen Grad an Tiefgang. Gute Unterhaltung.
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