Bereits unmittelbar nach dem Aufstehen wurde mir gewahr: Alles wie üblich. Einzig dass der Kater sich des Nachts nach Genuss einer mittleren Portion des im Bad stehenden Zypergrases sich gleich an Ort und Stelle übergab und ich entsprechend als erste Maßnahme des Tages eine Komplettreinigung meines Waschbeckens vornehmen musste, kontrastierte zu meinem sonstigen Tagesablauf. Ansonsten war aber tatsächlich alles wie immer, und um es unumwunden zuzugeben: Wenn ich mir auch gelegentlich etwas Abwechslung im Alltag wünsche – solche Aktionen sind nicht das, was ich damit meine. Kein besonders gelungener Start in meinen Ehrentag. Um es aber angemessen einzuordnen: Streng genommen hätte ich ein solches Missgeschick auch an keinem anderen Tag meines Lebens wirklich gebraucht.
Nachdem mir das Schicksal auf diese Weise unmissverständlich klargemacht hatte, dass es sich keineswegs die Mühe geben würde, mir gefallen zu wollen, bloß weil sich an dem Tag meine Abstinenz von Alkoholika zum 18. Mal jährt, war die Marschrichtung vorgegeben: Alles wie immer. Warum sollte sich die Welt auch vor mir verneigen? Ich bin einer von vielen. Ein großer Schritt für mich, immerhin. Für die Menschheit als solche aber dann doch ein eher bescheidener Beitrag zu ihrer Fortentwicklung.
Das ist die eine Seite.
Auf der andere Seite flüstert mir eine Stimme ins Ohr, dass es sehr wohl eine Leistung ist, auf der man aufbauen kann und deretwegen ich zu Recht die Kollegen zur Feier des Tages mit Windbeuteln, Laugenbrezeln und vegetarischem Mettigel versorge. Denn wenn ich nicht darauf aufmerksam mache, nimmt niemand außer Tina und Johannes, die mir jedes Jahr zuverlässig gratulieren, überhaupt Notiz davon.
Wie zu vielen anderen Dingen auch, gebe ich zum Thema Alkoholmissbrauch meinen Senf nahezu ausschließlich dann dazu, wenn ich gefragt werde. Missionieren war noch nie mein Auftrag gewesen. Wenn ich im aktuellen Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung von einer Studie lese, wonach im Fernsehen in sechs von zehn Sendungen Alkohol im Bild ist, fordere ich keine Verbesserung des Programms. Sondern stelle nüchtern fest, dass da vermutlich lediglich der Zustand auch auf der anderen Seite des Bildschirms wenigstens ansatzweise realistisch abgebildet wird. In der gleichen Veröffentlichung wird festgestellt, dass in Deutschland jeder sechste Mensch zu viel Alkohol trinkt. Die hier zu Grunde liegende kritische Menge liegt übrigens unterhalb der gängigen Praxis: Solange man noch in der Lage ist, Flasche oder Glas selbstständig zum Mund zu führen, ist es nicht zu viel.
Jeder Sechste. In welcher Runde auch immer Ihr Euch gerade befindet – zählt noch nicht durch, sondern erst dann, wenn Ihr Euch vergegenwärtigt habt, dass an jedem dieser professionellen Trinker Angehörige und Freunde dranhängen, denen meistens außer Zugucken und Ertragen nicht viel übrig bleibt. Eine etwa zwei Wochen alte Nachricht soll diesen Sachverhalt illustrieren: Ein Mann war mit seiner angetrunkenen Frau und ihrem der Trunkenheit geschuldeten aggressivem Auftreten dermaßen überfordert, dass er ihre Abgabe auf einer Polizeiwache als alternativlos empfand. Unbeteiligte werden auch bei Verkehrsunfällen und Körperverletzungen unter Alkoholeinfluss unfreiwillig zu Beteiligten. Ich möchte niemandem den Spaß verderben, aber das bitte immer mitdenken. Jetzt dürft Ihr durchzählen. Auf der Arbeit oder im Freundeskreis. Ihr werdet womöglich feststellen, dass die genannte Zahl nicht furchtbar weit neben der Wirklichkeit liegt. Wer einen deutlich höheren Anteil in seinem Umfeld feststellt, sollte sich erst recht Gedanken machen. Falls jemand gar keine Trinker in Familie und Freundeskreis hat, bedeutet das nicht zwangsläufig Entwarnung, denn eine Untersuchung aus dem Jahr 2012 kam zu dem Ergebnis: „Gebildete anfälliger für Alkoholkonsum“. Mit Blick auf meine Person erklärt das natürlich einiges. Vielleicht würde es nicht schaden, wenn unsere Gesellschaft ihre Bildungsziele einer kritischen Überprüfung unterzieht.
Ein immens wichtiges Thema darf in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen werden: Es wurde nämlich bei Fruchtfliegen festgestellt, dass diese mit Alkohol versetztes Futter gegenüber normalem Futter bevorzugen, wenn sie sich nicht paaren können. Der Grund liegt darin zu suchen, dass durch beide Tätigkeiten derselbe wichtige Botenstoff des Belohnungszentrums aktiviert wird.
Jetzt werden nicht wenige solcherlei Forschung für ähnlich überflüssig halten wie einen Neubau für das Deutsche Tapetenmuseum. Wenn man weiß, dass bei Säugetieren ein sehr ähnlicher Botenstoff existiert, wird die Angelegenheit schon interessanter. Allerdings muss noch weiter erforscht werden, ob sich die Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen.
Es lässt sich darüber streiten, ob man tatsächlich umfangreiche Studien durchführen muss, wenn man auch ohne großangelegte Forschung Phänomene wie Frustsaufen erkennen und erklären kann. Weitgehend unstrittig dagegen dürfte auf der anderen Seite sein – und auch dafür reichen Alltagsbeobachtungen -, dass Alkoholkonsum unter den richtigen Umständen die Chancen auf Beischlaf tendenziell erhöht.
Alkohol bringt einen ja dazu, Dinge zu tun, die man normalerweise nicht tun würde. „Die Risikobereitschaft steigt, während gleichzeitig das Urteilsvermögen herabgesetzt wird.“ Was zunächst eine völlig wertfreie Feststellung ist, führt hinterher unter anderem zu Schlagzeilen wie „Japanischer Co-Pilot wollte nach 2 Flaschen Wein und 2 Liter Bier noch fliegen“. Da jeder zweite Nordostasiate aufgrund eines fehlenden Enzyms keinen Alkohol verträgt, wäre diese Menge zur Erlangung der Fluguntüchtigkeit unter Umständen nicht einmal nötig gewesen. Dass man sich über solche Meldungen mit glimpflichem Ausgang amüsieren kann und darf, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Thema an und für sich für fun facts zu ernst ist.
Angesichts des Stellenwertes von Gebranntem und Gegorenem in unserer Gesellschaft freut einen an so einem Jubiläum so ziemlich jede Ermutigung, auch wenn es zunächst nur die beiden oben bereits genannten Menschen sind. Die Geste zählt. Als mein damaliger Mitbewohner seinerzeit zu mir kam, um mir zu meinem ersten abstinenten Monat zu gratulieren, war das angesichts seiner beeindruckenden Fahne eine falsch verstandene Geste, aber es war eine Geste. Wenn man vorher jahrelang täglich gesoffen hat, ist ein Monat richtig, richtig lang. Und jetzt sind 18 Jahre draus geworden.
Und heute wie damals, trocken oder nass, geht es bei aller Unterschiedlichkeit in der Wahl der Mittel in der Hauptsache darum, geliebt, gemocht, anerkannt oder als Minimalziel wenigstens beachtet zu werden. Auch das dürfte ein Motiv sein, mittels dieses Blogs regelmäßig Nabelschau zu betreiben.
Insofern gilt auch unter diesem Gesichtspunkt: Alles wie üblich.
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