Nicht zwingend muss ein bestimmtes Verhalten nachvollziehbar sein, um die Konsequenz, mit der selbiges durchgezogen wird, zu bewundern. Wenn ein junger Mann, der vor ein paar Jahren morgens regelmäßig in Richtung der Berufsschulen in unserer Straße unterwegs war, sich dafür entscheidet, diesen Weg sommers wie winters grundsätzlich ohne Jacke zurückzulegen, könnte man das belächeln. Man könnte anmerken, dass es lediglich eine Frage von maximal 30 Sekunden sein dürfte, die er früher aufstehen müsste, damit es für das Komplettieren der Garderobe noch reicht.

Allerdings geht es in diesem Alter bekanntlich oftmals mehr um das Herausstreichen von Individualität und sehr viel weniger um eine funktionierende Thermoregulation. Insofern wären auch Anerkennung der letztendlich offensichtlich erfolgreichen Suche nach einem brauchbaren Distinktionsmerkmal sowie Respekt vor der Bereitschaft, das ohne Wenn und Aber umzusetzen, angemessene Reaktionen.

Der Persönlichkeit dieses mutmaßlichen Schülers vollumfänglich gerecht wird also weder Spott noch Überhöhung. Dass er weiß, um welches Thema es gehen wird, wenn er von fremden Menschen angesprochen wird, sind wohl auch eher Erfahrungswerte als hellseherische Fähigkeiten. „Ich habe eine Jacke“ war die Antwort, die meine Ex-Gattin zu hören bekam, als sie ihn darauf ansprechen wollte und mit diesem Ansinnen offenbar nicht die Erste gewesen war.

Sehen wir darüber hinweg, dass, wo die Frage gar nicht gestellt werden konnte, es sich streng genommen auch nicht um eine Antwort handelt, muss man in einer solchen Situation die nächste Frage eher an sich selbst richten: Reicht mir diese Aussage? War es das, was ich herausfinden wollte: dass er sehr wohl eine Jacke hat? Falls nicht: Wie realistisch ist es, ihm eine seriöse Antwort auf die sich unweigerlich anschließende Frage zu entlocken, wie kalt es noch werden muss, damit er in Betracht zieht, die in seinem Besitz befindliche Jacke auch ´mal anzuziehen? Ob es Teil eines Konzeptes ist, dass die Grundfarbe seiner T-Shirts immer schwarz ist, gerät da schon fast zur Nebensache. Ich vermute ´mal, dass Zufall dahinter steckt. Stil hat man oder eben nicht.

Wie immer wenn zuverlässige Informationen Mangelware sind, sind Spekulationen Tür und Tor geöffnet. Mein Verdacht ist also, dass sein Alleinstellungsmerkmal ein auf die Spitze getriebenes Resultat der Auseinandersetzung mit einem leidigen Thema ist, dem sich früher oder später ohnehin jeder stellen muss, der mit offenen Augen durchs Leben geht. Die Frage lautet: Wie sinnvoll sind Übergangsjacken?

Man geht ja bei dem Konzept der Übergangsjacke fälschlicherweise davon aus, es gäbe ein Kleidungsstück, welches seinen Träger von Februar bis April und dann nochmal ab Mitte September bis mindestens Oktober morgens bei 3 Grad in eine angenehme Wärme hüllt, ohne diesen am selben Tag, nur eben 10 Stunden später, bei 19 Grad im gleichen Kleidungsstück ordentlich schwitzen zu lassen. Dagegen erscheint die Quadratur des Kreises oder – noch schwieriger – ein Auswärtssieg beim FC Barcelona fast schon als lösbare Aufgabe.

Wenn man in der Früh demnach getrost mit der stinknormalen Wintergarnitur zurechtkommt, später am Tag aber ein T-Shirt ausreicht, gehört eine Übergangsjacke außer vielleicht in dem kurzen Zeitfenster zwischen 11 und 12 Uhr zu den letzten Dingen, die man in dieser Situation benötigt.

Insofern gehören Übergangsjacken in die gleiche Kategorie überflüssiger Gegenstände wie ungelesene Bücher oder Laufschuhe. Mir ist bewusst, dass „Bock-drauf-haben“ das eigentliche „brauchen“ ist, und dass ich mich als jemand, der in Flur und Schlafzimmer Platz für 60 Paar Schuhe benötigt, auf sehr dünnem Eis bewege, wenn ich die Bekleidungsindustrie als eine derjenigen Branchen brandmarke, die uns am erfolgreichsten sinnlosen Kram als überlebenswichtig aufschwatzt. Dennoch: Die Frage, ob man etwas wirklich braucht, hat bei einer Übergangsjacke die gleiche Berechtigung wie bei einem Schützenpanzer.

Fassen wir bis hierher zusammen: Man braucht streng genommen keine Übergangsjacke, sondern eine normale dicke Jacke, die einen regelmäßig zuverlässig durch den durchschnittlichen, also für die Jahreszeit zu warmen Winter bringt. Dazu braucht man nachmittags irgendjemand, der einem diese Jacke abnimmt, solange man noch draußen unterwegs ist. Von der anderen Seite aufgerollt: Was wir eigentlich brauchen, ist eine Tasche für mindestens eine Jacke. Für den Fall der Fälle sollte die Tasche ausreichend Platz für zwei Jacken bieten, weil die Jeansjacke, welche bei den für den Nachmittag angekündigten 18 Grad genau richtig gewesen wäre, direkt in dieser Tasche bleibt, weil das Thermometer stattdessen 22 Grad anzeigt und sich somit jedwede Jacke verbietet.

Eine solche Übergangstasche sollte natürlich ästhetisch kein allzu großer Unfall sein. Leider sehe ich exakt an dieser Stelle ernsthafte Probleme auftauchen. Denn angesichts einer Vielzahl von Männern, die bereits mit ihren normalen Umhängetaschen modisch komplett überfordert sind und diese demonstrativ vor ihrem Bauch tragen anstatt sie lässig seitlich baumeln zu lassen, darf man sich diesbezüglich überhaupt keinen Illusionen hingeben. Irgendjemand wird schon dafür sorgen, selbst die geilsten Taschen aussehen zu lassen als wären sie samt ihren Trägern gerade einem Puppentheater entsprungen.

Man wird sich an solche verstörenden Anblicke gewöhnen müssen, denn solange der Mensch nicht anpassungsfähig genug ist, saisonale Temperaturunterschiede beispielsweise über einen Fellwechsel zu regulieren, wird man bei Bedarf Jacken an- oder ausziehen müssen. Somit geht an der Übergangstasche wohl kein Weg vorbei.

Denn wie man außerdem immer wieder beobachten kann, weiß das Wetter oft genug selbst nicht so genau, in welche Richtung es sich entwickeln soll. Und was macht man als Wetter, wenn man sich nicht entscheiden kann? Genau: Man pendelt zwischen den Extremen hin und her und ignoriert sämtliche Stadien dazwischen. Nehmen wir die drei Tage im Jahr, in denen die Temperaturen den Einsatz einer Übergangsjacke, welche sich bereits seit Monaten für den Tag X fit hält, tatsächlich als praktikabel erscheinen lässt – das Wetter ist damit doch regelmäßig dermaßen überfordert, dass tags darauf der status quo ante wiederhergestellt wird. Im Frühjahr bedeutet das: auf einen Tag mit milden 15 Grad folgen zweieinhalb Wochen mit Temperaturen zwischen 2 und 4 Grad. Danach geht es ohne Umschweife in den Sommer über. Im Herbst besinnt sich das Wetter nach einem kühleren Tag gern darauf, dass 28 Grad uns an und für sich ganz gut durch die letzten Monate gebracht haben und kehrt daher bis zum ersten Schnee zu entsprechenden Temperaturen zurück. Wo aber zwischen sehr warm und sehr kalt kein Raum für alles Dazwischenliegende mehr existiert, fehlt der Übergangsjacke zur Existenzberechtigung der Übergang.

Wo soll das alles hinführen? Festzustehen scheint: Selbst wenn bloß die optimistischsten Prognosen in Bezug auf den Klimawandel zutreffen, werden wir uns – der mutmaßliche Berufsschüler mit ohne Jacke eingeschlossen – warm anziehen müssen. Im Hinblick auf den Umgang mancher Zeitgenossen mit diesem Thema bleibt außerdem festzuhalten: So manche menschliche Verhaltensweise ist längst nicht mehr nachvollziehbar; über die Konsequenz, mit der sie durchgezogen werden, kann man sich nur noch wundern.