Zu des Menschen unbeliebtesten Körperteilen gehört zweifelsfrei die Nase. Im Zentrum des Gesichts eher schlecht als recht platziert, bestehen im Normalfall wenig Chancen, sie in irgendeiner Weise zu kaschieren, wenn Form oder Umfang missfällt. Ungeachtet der wertvollen Arbeit, die das Riechorgan in puncto Atemluft, Klang der Stimme oder auch Tragen einer Brille täglich leistet, gibt es für die Nase scheinbar nur wenig schmeichelhafte Bezeichnungen. Zinken, Kolben, Knollen, sind nur einige Beispiele, die unser gespanntes Verhältnis zum Gesichtserker kennzeichnen.
Damit nicht genug, gerät das Ding im Gesicht auch auf etlichen Selfies zum Nachteil. So fanden US-Wissenschaftler unlängst folgendes heraus: Auf etlichen dieser Selbstportraits ist die Nase zu groß, und schuld daran ist die Perspektive. Der relativ geringe Abstand der Kamera zum Motiv lässt die Nase im Verhältnis zum Rest der Visage überproportional groß wirken. Dass der Rüssel aus einer unvorteilhaften Perspektive aufgenommen auch unvorteilhaft wirkt – das konnte man so nicht unbedingt erwarten.
Nicht dass ich es verurteilen würde, wenn sich Wissenschaft an Alltagswidrigkeiten abarbeitet, denn exakt dafür soll sie letzten Endes ja auch dienen. Ich habe während meines Politologie-Studiums das Feeling Bieberer Berg erforscht, Boris Beckers Trennung von seiner Frau Barbara diskursanalytisch durchleuchtet oder meine Diplomarbeit über Fußballfankultur geschrieben. Wissenschaft zum Anfassen also. Aber bei einem Sujet wie der Größe der Nase auf Selfies fehlt dann sogar mir die Ernsthaftigkeit.
Die eigentliche Überraschung ist auch nicht das Ergebnis, sondern dass es überhaupt noch einer solchen Untersuchung bedurfte. Denn schon eine harmlose haushaltsübliche Online-Suche, wie ich zum perfekten Selfie gelange, bringt mir das gewünschte Ergebnis in vieltausendfacher Form.
Und leider noch mehr Ergebnisse, nach denen ich an und für sich nicht gesucht hatte.
Der erste Erkenntnisgewinn nach Betrachten der ersten beiden Videos zum Thema lässt sich jedenfalls etwa so formulieren: Die Relevanz solcher Fragen ist auch Gradmesser für die Dekadenz einer Gesellschaft.
Zweitens bekommt man den Eindruck, dass auf dem Weg zu einem anständigen Selfie die Nase noch das geringste Problem ist. Im Grunde ist alles, was sich im Gesicht befindet, potentiell störend und muss besser in Szene gesetzt werden. Was bei einem zusätzlichen Kinn noch Sinn ergibt, ist bei der Frage, wie weit der Mund geöffnet zu sein hat, um die Lippen weder zu üppig noch zu schmal erscheinen zu lassen, mir persönlich definitiv einen Schritt zu weit.
Den Kulturpessimisten überrascht immerhin, dass sich mitunter durchaus kritisch mit Bildbearbeitungs-Software auseinandergesetzt wird. Sicher mag man das als heuchlerisch empfinden, wenn Glaubwürdigkeit und die viel gerühmte Authentizität erst zum Thema wird, nachdem eine Stunde lang der Hintergrund von störenden Elementen befreit und etwa achtzig Fotos geschossen wurden, von denen dann für die Veröffentlichung dasjenige ausgewählt wird, auf dem die total natürliche Pose (ganz schlimm übrigens: das Duckface) am spontansten wirkt. Aber man darf natürlich auch nicht zuviel erwarten von der Generation, die in wenigen Jahren in Schlüsselpositionen dieser Gesellschaft drängt.
Ungeschminkt und #nofilter
Während man also gerade beginnt, sich mit der Scheingewissheit zu arrangieren, dass so schlimm es also wohl doch noch nicht um unsere Zukunft bestellt ist, gelangt man zum ernsten Hintergrund dieser Studie. Eine steigende Anzahl junger Menschen nämlich erliegt dem Glauben, mit Inanspruchnahme der plastischen Chirurgie ein geeignetes Mittel für zukünftige Posts gefunden zu haben. Ästhetische Eingriffe aus exakt der Motivation heraus, den Zinken auf Selfies besser ins rechte Licht rücken zu können, sind enorm im Kommen.
Wie verkehrt es wäre, angesichts dieses Befundes mit dem Finger reflexartig auf die USA zu zeigen, belegt eine Umfrage aus dem letzten Jahr aus deutschen Landen. Vier von fünf befragten Fachärzten sehen einen wenigstens teilweisen Zusammenhang zwischen Trends in den sozialen Medien und der Nachfrage ihrer Dienstleistungen. Keine weiteren Fragen.
Ich finde allerdings den Ausweg nur mittelmäßig gelungen, sich so gar keine Gedanken über die Wirkung eines Bildes zu machen. Ich gebe zu, mich über misslungene Versuche, am Selfie-Wahn teilzuhaben, gelegentlich sogar sehr gut zu amüsieren. Weil aber die Abkehr von allen Regeln der Selfie-Kunst meistens eher unfreiwillig vollzogen wird, taugt sie als Gegenentwurf zur perfekt inszenierten Instagram-Ästhetik leider gar nicht. Gewollt und nicht gekonnt trifft es schon eher. Als Mitglied mehrerer Single-Gruppen verfüge ich diesbezüglich über reichlich Anschauungsmaterial. Um aufkommenden Fragen vorzubeugen: Nein, ich bin nicht lediglich aus Gründen solcher Recherchen dort Mitglied, wehre mich aber auch nicht, wenn jemand oder etwas dort darum bettelt, mir als Inspiration zu dienen.
Es fängt ja nicht selten schon damit an, dass die Aufnahmen spiegelverkehrt sind. Falls das seinerseits ein Trend sein sollte, den ich nur einfach nicht mitbekommen habe, weil ich nicht hip genug bin – schöner werden die Bilder dadurch trotzdem nicht. Mir ist klar, dass es nicht gerecht ist, aber Männer haben es da manchmal ein Stück weit leichter. Sie können die Gefahr, das Logo ihres Markenpullis in Spiegelschrift abzubilden, einfach umgehen, indem sie sich mit freiem Oberkörper ablichten. Eine Option, von der gerade im Kontext von Singlegruppen auch häufig Gebrauch gemacht wird. Ein weiterer Vorteil dieser Vorgehensweise: Die Frauen der Gruppe scheinen auf solche Fotos stärker zu reagieren. Aber das ist ein anderes Thema. Als nur so halbwegs schöner Mensch habe ich reichlich Erfahrungen mit Nichtbeachtung. Was in der Online-Welt ja die Höchststrafe ist. Ein Selbstportrait soll ja hauptsächlich Anerkennung und Selbstbestätigung verschaffen. Was dann in Respektsbekundungen wie „Du Süße..!“, dem heutzutage wohl unvermeidlichen „Nice!“ oder einfach nur „Maschine!“ Ausdruck findet.
Der Text wäre nicht komplett ohne die Aufforderung an mich selbst, mich an meine eigene Nase zu fassen. Denn nebenbei bemerkt ist es nicht allein die Generation Selfie, welche an diesem Spiel teilnimmt. Ich tue es auch. Alle tun es. Die Peinlichen sind nicht immer nur die anderen. Den großen Unterschied sehe ich vor allem darin, wie abhängig jemand von solcher Art Bestätigung ist. Was letzten Endes darüber entscheidet, wie weit der Einzelne bereit ist, dafür zu gehen.
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