Es begab sich kürzlich, daß ich mit einem Vorgesetzten Für und Wider einer Einführung der Prügelstrafe für unterlaufene Fehler erörterte. Ergebnislos. Alles bleibt zunächst wie es ist. Wirkungsvoller sind nach seinem Dafürhalten gelungene Ansprachen, wie er sie auch schon bei mir beobachtet haben will. Wahrscheinlich hatte ich an jenem Tag die Dose mit den blutdrucksenkenden Präparaten vergessen. Jetzt habe ich beantragt, eine Bütt anzuschaffen und diese bei Redeanlässen in Stellung zu bringen, damit ich schon durch das Setting mehr Gewicht und Verbindlichkeit in meine Aussagen bringen kann, wenn ich zu den versammelten werktätigen Massen spreche. Im Durchschnitt sind das fünf, sechs Leute, die im Lager ihr Unwesen treiben.

Ob und wann ich die Bütt tatsächlich bekomme, vermag ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht realistisch einzuschätzen. Meine Idee, für Botengänge einen Firmenpanzer anzuschaffen, wurde bis dato auch noch nicht umgesetzt. Es spricht aber für meine Bosse, daß sie über solche Vorschläge nachdenken und nicht sofort sagen: „Micky, sowas brauchen wir nicht.“ Weil: „Sowas haben wir bis jetzt auch nicht gebraucht.“

Also gehe ich erst einmal zurück in mein Lager und blicke so in die Runde und denke mir: die machen ihr Ding, ich mache meins. Privat natürlich erst recht. Dennoch hätte alles viel schlimmer kommen können. Hier befinden sich die Kollegen größtenteils, weil studierende Aushilfen, mittendrin in ihrer persönlichen Entwicklung. Spannend. Ich habe genügend Leute kennengelernt, bei denen merkte man: da tut sich nicht mehr viel. Nicht spannend.

Einen Höhepunkt solcher Beobachtungen am lebenden Objekt durfte ich während des runden halben Jahres genießen, in dem ich mich auf die Externenprüfung zur Fachkraft für Lagerlogistik vorbereitete und dazu einen von der Arbeitsagentur gesponserten entsprechenden Kurs besuchte. Da war diese eigenartige Form des Unbeteiligttuns wie unter einem Brennglas zu betrachten. Die ungleiche Gruppe der Lernenden bestand neben Lagermenschen aus angehenden Kaufleuten verschiedenster Couleur, den größten Anteil machten Bürokaufleute aus. Alles, was ich über diese aufschlussreiche Zeit schreibe, ist wirklich so passiert, ich muss mich da für nichts entschuldigen.

Selbstverständlich waren auch fitte Leute darunter. Korrekte Leute auch. Im Prinzip konnte man mit allen gut klar kommen. Solange wir gemeinsam in diesem Boot saßen, waren sie alle keine Fressfeinde. Gleichwohl die Neigung dazu bei manchem erkennbar war und ich froh bin, sie in diesem Kontext und nicht etwa als Kollegen kennengelernt zu haben.

Und rund die Hälfte war eben von schlichtem Gemüt. Einfach gestrickt hätte man früher vielleicht auch gesagt. Was eben so gesagt wird, wenn es diplomatisch elegant klingen soll, am Ende allerdings natürlich genauso verletzend ist wie unverblümteres Vokabular. „Naturtrüb“ wäre eine Formulierung nach meinem Geschmack, während „kognitiv suboptimiert“ zwar fein, aber fast schon wieder zu hart klingt. Dabei bin ich mir sicher, daß jeder einzelne aus dieser Runde irgendwo seine Qualitäten hat, die Prüfungsvorbereitung jedoch nicht der geeignete Rahmen war, diese einbringen zu können. Das Lernen war weitgehend individuell eigenverantwortlich organisiert mit einigen frontalen Einwürfen, darunter zwei Wochen zu Beginn. Da war dieses Traumensemble noch lange nicht komplett, aber man wusste bei den meisten schon nach diesen 14 Tagen, wo sie stehen.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen beabsichtigt

Der Totalverweigerer: Fachrechnen war scheiße, IHK war scheiße. alles war scheiße. Hat er keinen Bock drauf. Braucht er nicht. Weil: Hat er bis jetzt auch nicht gebraucht. Folgerichtig stand vom zweiten Tag an fest, daß er diesen Kurs abbrechen wird. Weil die Sachbearbeiterin der Arbeitsagentur – logisch – auch scheiße war, musste er erst Atteste abliefern, um aus dieser Scheiße relativ unbeschadet wieder herauszukommen. Seit einem Unfall fährt er auch keinen Stapler mehr. Was die Jobaussichten für einen ungelernten Lagerhelfer wie man sich sicher vorstellen kann um einiges steigen lässt. Reicht ja, wenn die Frau arbeitet. Es gehört vielleicht nicht hierher, aber: Offenbacher. Deswegen will das Schicksal auch, daß ich ihn häufiger treffe. Auf keinen der Jobs, die er seitdem hatte, hatte er eigentlich Bock. Auf Zeitarbeitsfirmen selbstredend erst recht nicht.

Auf gewisse Weise hat er Recht behalten, denn für das, was er aktuell tut, braucht er tatsächlich keinen Abschluss. Bier einkaufen, Fernsehprogramm wählen, Bier trinken – läuft bei ihm.

Unvergessen sein Urteil über einen weiteren Kollegen aus dem Kurs: „Ich glaub´ manchmal, der will gar nicht arbeiten.“

Der auf diese Weise Gescholtene war

der Dortmunder: In erster Linie war er SGE-Fan und hatte Dortmund noch als Zweit- oder Drittverein auserkoren. Er stieß spät zu unserem Haufen dazu und hatte eben das Pech, an seinem ersten Tag in diesem Trikot zu erscheinen, das mich spontan zu meiner Lieblingsäußerung „Sowas sehen wir hier gar nicht gern“ als Begrüßung veranlasst hatte. Seitdem war er der Dortmunder. Selbst wenn er das Trikot danach nie wieder in unserer Gegenwart getragen hätte, wäre er der Dortmunder geblieben.

Der Dortmunder machte sich an die Arbeit, hat sich seine eigenen Karteikarten zum Lernen erstellt, in relativ kurzer Zeit den Prüfungsstoff aufgeholt und die schriftliche Prüfung bestanden. Die mündliche musste er ein halbes Jahr später wiederholen, weil er den Termin um einen Tag verpasst hat.

Es gab einige Kandidaten, denen ich eine solche Aktion eher zugetraut hätte. Zum Beispiel

Die Lebenserfahrene: Sie hat sich einen Wissensvorsprung herausgearbeitet, weil sie das „Gedöns mit Prüfung und so“ schon zweimal durchgemacht hat. Ihre wie sie stets betonte nunmehr letzte Chance versuchte sie durch eine eigens von ihr entwickelte echte Innovation auf dem Feld der Lernstrategien zu nutzen. Ich nenne es hier stark vereinfachend exzessives Zuspätkommen. In Bezug auf Unlust war sie folglich die weibliche Entsprechung zum Totalverweigerer. Immerhin keine faulen Ausreden, sondern Klartext: „Ich pack´s halt einfach nicht, früh aufzustehen.“ Von dem gleichen Menschen bei anderer Gelegenheit „Shopping, teure Handtaschen – das gehört bei mir zur Lebensqualität einfach dazu.“ Keine weiteren Fragen. Aus dem Zuspätkommen wurde gelegentliches Kommen, woraus wiederum komplettes Nichterscheinen wurde. Ich nehme an, die Arbeitsagentur hat ihr daraufhin die Zuschüsse zu ihrer nächsten Shoppingtour leicht gekürzt.

Du bist der Durchschnitt der fünf Menschen, mit denen du die meiste Zeit verbringst.“

Mein wahnsinniger Sitznachbar: ein total korrekter Kerl, aber verpeilt ohne Ende. Bei Rechenaufgaben musste man immer damit rechnen, daß bei ihm irgendwo in der Aufgabe aus dem Nichts Zahlen auftauchen, die mit nichts aus der Aufgabe oder den vorangegangenen Lösungsschritten in Verbindung stehen. Mit ihm hatte ich außerdem den spaßigsten Moment des ganzen halben Jahres, als wir auf punkname.de neue Namen für uns alle generieren ließen. So zum Beispiel „Pimmel“ für den Dozenten, „Besen“ für Petra, die Gruppenälteste und personifizierte Prüfungsangst, „Burger“ für meinen vorderen Nachbarn.

Burger: kam sehr spät dazu und wusste wohl weder wie ihm geschah noch was er dort soll. Ich habe berechtigten Grund zu der Annahme, daß das sein Sachbearbeiter der Arbeitsagentur vermutlich auch nicht wusste. Entweder war dessen Motiv Hauptsache ´raus aus der Statistik oder war es evolutionärer Zufall, der ihn überhaupt erst auf die andere Seite des Schreibtischs gespült hat. Beunruhigend ist dabei höchstens, daß ich ersteres nicht zwangsläufig für wahrscheinlicher halte. Im schlimmsten Fall war es eine Kombination aus beiden Ursachen.

Burger war der einzige im Kurs, vor dem ich Angst hatte. Nicht Angst in dem Sinn, daß ich auf die Mütze bekomme, wenn ich etwas verkehrtes sage. Sondern diese Angst, die man vor Psychopathen hat. Die immer zwar auf gewisse Weise seltsam, aber doch freundlich sind und man aber nie weiß, ob sie nicht vielleicht doch in der nächsten Sekunde ein Samuraischwert auspacken, um einem damit die Gliedmaßen abzutrennen und diese in ihr abendliches Menü zu integrieren.

Weil er sich ständig zu mir nach hinten gedreht hat, um mir Gespräche aufzuzwingen, habe ich ihm irgendwann erklärt, warum ich in diesem Kurs bin. Nachdem das vordergründig geklärt war, hat er sich nur noch umgedreht und nichts gesagt. Einfach abgewartet. Mich minutenlang angestarrt, bis ich das von ihm gewollte Gespräch endlich mit „Was ist!“ eingeleitet habe.

Ähnlich selten wie Burger hat sich nur noch einer der anderen mit den Inhalten beschäftigt, die uns alle in diesen Kurs geführt haben. Das war

Der Burnout-Vermeider: die fleischgewordene Antithese zur Behauptung, es gebe keine dummen Fragen. Ebenfalls sehr spät dazugestoßen, hat er sich offenbar gedacht: wenn schon keine Zeit, dann brauche ich diese wenige Zeit auch nicht unbedingt nutzen. Internetpräsenzen von Hotels sowie allerlei Videos waren zu 90 Prozent auf seinem Bildschirm zu sehen. Ob die restlichen 10 Prozent tatsächlich komplett Prüfungsrelevanz besaßen, weiß ich nicht. Nach der schriftlichen Prüfung und seinem Verdacht, das könnte für ihn möglicherweise nicht ganz gereicht haben, war das Verhältnis jedenfalls etwas ausgewogener.

Was bleibt? Bei der Beantwortung der Frage, ob jenes halbe Jahr bleibende Schäden bei mir hinterlassen hat, könnte es hilfreich sein, jetzt nochmal die ersten beiden Absätze dieses Blogeintrags zu lesen und danach zu entscheiden.