Ich möchte nicht undankbar erscheinen, doch diese permanenten Ratschläge können einem schon manchmal auf den Keks gehen. Womit noch nicht einmal die oftmals ungefragt erhaltenen Tipps von Freunden, Kollegen sowie – auch wenn es hier manchmal besonders schwierig ist – Müttern gemeint sind. Bedeuten diese doch immerhin, dass da überhaupt jemand ist, der Anteil nimmt. Und wer von ihnen kann schon ernsthaft etwas dafür, wenn zu den meisten unserer Probleme außer Plattitüden nichts so recht einfällt, was mir ja zugegeben umgekehrt oft auch nicht anders geht.
Viel schlimmer als solche unbeholfenen, aber doch immerhin gut gemeinten Ratschläge sind doch die ungefragt im Raum stehenden Tipps, die einen an manchen Tagen ob ihrer Allgegenwärtigkeit schon durch ihre bloße Existenz auf die Palme bringen. Ja – man benutzt sie auch selbst. Wenigstens hin und wieder. Richtig – so völlig unwahr, dass man ihnen umgehend widersprechen müsste, sind sie ja auch nicht. Jedenfalls nicht solange man noch einigermaßen bei Trost ist. Trotzdem.
Nicht in Problemen, sondern in Lösungen zu denken ist zum Beispiel so ein Spruch. Hört sich super an, und da man außer denken zunächst nichts tun muss, wird auch der Umsetzung nicht gar zu viel im Weg stehen.
Wenn man dann allerdings einen technisch nur mittelmäßig ausgestatteten Haushalt wie ich führt, scheitert dieser Vorsatz bereits morgens bei einer vergleichsweise harmlosen Übung wie dem Aufstehen. Der Wecker schafft es nämlich, in dem jetzt noch nicht ganz halben Jahr, seit ich die Uhr bei der Umstellung auf Sommerzeit neu gestellt habe, sagenhafte acht Minuten nachzugehen. Man hat ja Kollegen, die auf diese Weise funktionieren: immer ein bisschen langsamer als der Rest. Jeder Fußballfan kennt das Problem, dass sein Lieblingsverein mindestens einen Spieler in seinen Reihen hat, der bei jeder Aktion diesen einen Schritt zu spät ist. Menschen müssen nach meiner Auffassung allerdings auch nicht perfekt sein. Bei einer Uhr, die zwar nicht für teures, immerhin aber doch für Geld verkauft wird, lege ich die Messlatte etwas höher. Auf meinen Wecker will ich mich verlassen können. Vielleicht habe ich unser gesellschaftliches System trotz über vierzigjähriger intensiver Teilhabe daran einfach immer noch nicht verstanden, aber selbst nach einer so langen Zeit der Gewöhnung würde ich mich schämen, ein nicht einwandfrei funktionierendes Produkt auf den Markt zu bringen.
Derweil zeigt mir die andere Uhr im Schlafzimmer, die des Radioweckers, den ich nach dem Kauf des neuen Weckers behalten musste, weil das Display der Neuanschaffung vom Bett aus praktisch gar nicht lesbar ist, eine Uhrzeit vier Minuten über der eigentlichen Zeit an. Ich hoffe, nicht extra erwähnen zu müssen, dass die Uhr dieses Geräts ebenfalls Ende April gestellt wurde. Wenn ich mich also ein knappes halbes Jahr später um eigentlich 6 Uhr wecken lasse, der Wecker mit acht Minuten Verspätung anfängt zu scheppern, ich auf die Uhr sehe, die vier Minuten vorgeht, bekomme ich 6.12 Uhr angezeigt. Bei mir zuhause bekommt die Redewendung, dass die Zeit rast, eine komplett neue Bedeutung. Wann soll ich das jemals wieder aufholen? Aber: Nicht in Problemen, sondern in Lösungen denken. Gute Idee eigentlich. Höchstens noch zu toppen von: Vielleicht sollte ich auch einfach ´mal eine Nacht drüber schlafen, denn: Bestimmt sieht morgen die Welt schon wieder ganz anders aus. Ein Versuch kann ja nicht schaden, denke ich mir, auch wenn ich im Falle der Uhren zu einer gewissen Skepsis tendiere. Der obligatorische Blick auf die beiden Wecker am nächsten Morgen bestätigt: Mein Pessimismus war gerechtfertigt.
Manchmal denke ich, die Drei-Schritte-Strategie Fenster auf – Wecker ´raus – Fenster wieder zu wäre die zwar nicht perfekte, aber die einzige Lösung. Und wer glaubt, noch jeder Wecker, der morgens mit einem gezielten Wurf auf der Straße gelandet ist, wäre mehr Dichtung statt Wahrheit, nicht viel mehr als ein verzweifelter Versuch, einer Geschichte etwas mehr Pep zu geben, unterschätzt die Realität in der Offenbacher Ziegelstraße. Aus pädagogischen Gründen merke ich hiermit an, dass ich die Aktion kacke gefunden hätte, wenn dadurch jemand verletzt worden wäre. Da dies aber nicht der Fall gewesen ist: Ganz großes Tennis! Allererste Sahne (Fischfilet)!
Es muss nicht immer Kaviar sein
Ich hoffe, man verzeiht mir den Versuch, an dieser Stelle eine höchstens halbgare Überleitung zu generieren, aber: Wo wir gerade beim Thema Essen sind, fällt mir die nächste Ungeheuerlichkeit an Tipp ein. Wer hat nicht schon einmal gehört: Wer zu schnell ist, verpasst den Sättigungspunkt.
Als ich das zum ersten Mal gehört habe, dachte ich an einen Scherz, aber die meinen das ernst! Es gibt in Deutschland tatsächlich Menschen, die an einen Sättigungspunkt glauben! Ich gebe bereitwillig zu, dass die Qualität meines Essens nicht das oberste Fach im Regal ist, aber: Wenn ich „nur“ esse, bis ich satt bin, verzehre ich sehr sicher mehr als ich das momentan tue. Aus sehr ähnlichen Gründen glaubte ich übrigens nicht daran, dass wiederverschließbare Packungen bei Schokolade sich jemals durchsetzen würden. Inzwischen haben sie sich jedoch genauso im Markt etabliert wie Wecker, die nicht richtig ticken. Ein erfolgreicher und weitsichtiger Unternehmer werde ich in diesem Leben jedenfalls nicht mehr. Was mir im Rahmen dieses Textes immerhin erlaubt, erneut von der individuellen auf die gesamtgesellschaftliche Ebene zu springen und damit zu einem Punkt, der in Predigten und anderen Sonntagsreden gern hervorgehoben wird, wenn es irgendwo knirscht im Gebälk: das Verbindende gegenüber dem Trennenden in den Fokus zu rücken. Ein Textbaustein mit ähnlich geringem Gebrauchswert wie mein Wecker oder wie all die anderen hier im Text erwähnten Floskeln. Denn wenn ich mir beispielsweise die seit Jahren wiederkehrenden Bilder von Wutbürgern ansehe und ihre Äußerungen in den Kommentarspalten des www verfolge, weil es mir nicht gelingen will, sie zu ignorieren, stelle ich fest: Wir werden auf keinen gemeinsamen Nenner kommen. Wir haben weder in ethischen noch in orthografischen Fragen gemeinsame Standards. Unterm Strich sprechen wir in etlichen Fällen nicht einmal die gleiche Sprache, auch wenn sämtliche Witze darüber wahrscheinlich bereits erzählt wurden. Nehmen wir – auch wenn ich mich frage, wie ich ausgerechnet auf diesen Dialekt komme – Sächsisch: Ich verstehe nicht alles, aber das meiste. Und im Grunde höre ich es gern. Wenn mich etwas daran stört, dann wenn Sätze in diesem Idiom zum Besten gegeben werden, von denen „Hören Sie auf, mir ins Gesicht zu filmen“ noch zu den harmloseren Äußerungen gehören.
Erneut könnte mir günstigstenfalls mein Unterbewusstes Antworten auf die Frage geben, wie ich gerade jetzt auf Eichhörnchenhirne komme, aber wie diese Woche berichtet wurde, ist in den USA vor einiger Zeit ein Mann nach Verspeisen eines solchen an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gestorben. Auch hier muss zumindest die Frage gestattet sein: Was verbindet mich mit so jemandem? Unabhängig von meinem Esstempo wäre angesichts einer solchen Mahlzeit mein Sättigungspunkt unter Garantie schon vor dem ersten Bissen erreicht. Da ich insgesamt eine Neigung zu weniger spektakulären Hobbys habe, werde ich auch über diesen Punkt keine Gemeinsamkeiten herstellen können.
Was bleibt also? Wenn das hier das Ergebnis der Absicht ist, einen optimistischen Text über Frustbewältigung und über das Lachen schreiben zu wollen, sollte ich eventuell wirklich ´mal anfangen, nicht in Problemen, sondern in Lösungen zu denken sowie das Verbindende über das Trennende zu stellen. Dann würde die Welt morgen zwar auch keine andere sein, aber vielleicht tatsächlich ganz anders aussehen. Am besten, ich schlafe ´mal eine Nacht drüber und fange dann gleich nächste Woche damit an.
Und vielleicht, aber nur vielleicht esse ich sogar auch etwas langsamer.
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