Die meisten haben ja das Jahr selbst erlebt. Das macht einen Rückblick darauf üblicherweise zu einer leicht abgegriffenen Angelegenheit.
Einerseits.
Andererseits sieht man bekanntlich nicht nur mit dem Zweiten besser und ansonsten nur mit dem Herzen gut, sondern außerdem je nach Standpunkt höchst Unterschiedliches. Das Wembley-Tor 1966 hat auch jeder etwas anders gesehen. Mancher hat den von der Unterkante der Latte auf, vor oder hinter die Linie und von dort ins Spielfeld gesprungenen Ball auch im Netz zappeln sehen. Seitdem rätselt die Fachwelt, an welcher Stelle eines Fußballtores genau der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke, von dem diese Aussage stammt, das Netz anbringt. Souveränes Auftreten bei totaler Ahnungslosigkeit – fraglos ein sehr früher Fall eines Phänomens, das wir seit einiger Zeit verstärkt als Problem nicht nur bei Staatsoberhäuptern wahrnehmen und das halt auch irgendwie zu diesem fast abgelaufenen Jahr 2020 gehört.
Nun mag die Frage, ob sich die Subjektivität der Betrachtung positiv oder negativ auf das Unterfangen Jahresrückblick auswirkt, allein vom Einzelfall entschieden werden. Unabhängig vom Ergebnis darf allerdings festgestellt werden, dass der Rückblick gegenüber dem Ausblick die allemal dankbarere Aufgabe ist. Eine Ausnahme von dieser Regel tritt freilich in Kraft, wenn das, worauf zurückgeblickt werden soll, das Jahr 2020 ist.
Dabei fing das Jahr selbst, wie in solchen Fällen üblich, mit dem 1. Januar noch recht normal an. Für die ersten guten Vorsätze war zwar schon kurz nach dem Ausschlafen Schluss, aber auch das bewegte sich wahrscheinlich durchaus im Rahmen des Gewohnten und konnte die meisten zunächst nicht von der Annahme abhalten, dass sie in 2020 so richtig durchstarten würden. Aber… hinterher und schlauer und immer und so. Man kennt das.
Hätte irgendjemand am 27. 12. 2019 prognostiziert, dass im nächsten Jahr der FC Bayern das Triple gewinnt, der Flughafen BER eröffnet wird und eine Pandemie das gesellschaftliche Leben weltweit auf den Kopf stellt, wäre das mögliche Triple das einzige Ereignis gewesen, dem man eine halbwegs realistische Chance des Eintreffens gegeben hätte.
Nicht dass ich diesem fiktionalen Genre besonders viel abgewinnen könnte, aber gönnen wir uns doch einmal den Spaß, mit dem Wissen von heute die Jahreshoroskope für 2020 daraufhin abzuklopfen, wie gut sie uns durch das Jahr gebracht haben. Der Klassiker, man möge sich mehr um die Gesundheit kümmern, wurde von der Entwicklung definitiv eingeholt, ein weiterer Klassiker („Unternehmen Sie mehr mit Freunden“) von derselben Entwicklung dagegen tendenziell ad absurdum geführt. Der Komplex Beruf und Karriere wurde bei den allermeisten Menschen weniger von der Stellung von Jupiter oder Saturn beeinflusst, sondern davon, ob man Pakete zustellt, Kranke pflegt oder ein Restaurant führt.
Trotzdem habe ich mir ´mal ein Horoskop für das nächste Jahr angeschaut. Sicherheitshalber. Es könnte ja sein, dass mich 2021 irgendein Knaller erwartet. Da würde ich ungern völlig unvorbereitet sein, wenn es soweit ist. Doch dem ersten Anschein nach wird sich das neue Jahr ähnlich wenig Mühe geben wie das alte, irgendetwas Besonderes für mich bereitzuhalten. Teamgeist soll ich halt entwickeln. Was soll das denn jetzt wieder? Jedes Team, das bisher mit mir arbeiten durfte, war stets dann am besten, wenn alle nach meiner Pfeife tanzten. Ich befürchte daher, dass überhaupt nur wenige Menschen so teamfähig sind wie ich. Sollte sich das nächstes Jahr wider Erwarten ändern, nehme ich das gern in Kauf. Bis dahin erledige ich die wichtigen Aufgaben lieber selbst.
„Geben Sie nicht so viel Geld aus für Dinge, die Ihnen nichts nützen“, wird mir noch geraten. Das könnte ich mir übrigens auch gut als Gedächtnisstütze an meinem Monitor vorstellen, wenn ich mir ´mal wieder plötzlich Massagepistolen ansehe, obwohl ich ursprünglich einen neuen Schreibtischstuhl gesucht habe. Doch Spaß beiseite! Das kann man mir zwar nicht oft genug sagen, soll an dieser Stelle allerdings wohl eher davon ablenken, dass es eigentlich in das letztjährige Jahreshoroskop gehört hätte. Eine brauchbare Vorhersage hätte gelautet: „Decken Sie sich am besten im Januar mit Nudeln ein, denn wenige Wochen später drehen die Leute deswegen komplett durch.“
Ansonsten wären mir – bei aller Kritik – Bilder von Fußball-EM und Olympischen Spielen als Gegenstand eines Jahresrückblicks aus ästhetischen wie inhaltlichen Gründen wesentlich sympathischer gewesen als so manche verstörenden Aufnahmen einiger Demonstrationen. Nehmen wir an, jemandem aus diesem erlesenen Kreis der Erleuchteten würde im Verlauf einer Unterhaltung die Phrase „Für wie blöd hältst Du mich eigentlich“ herausrutschen, und Dir fällt partout kein adäquater Vergleich ein, dann hast Du 2020 recht gut zusammengefasst. Allerdings – ich gebe es zu – ist dieses Szenario schon sehr weit hergeholt, und diese Frage gehörte natürlich mehrheitlich in die andere Richtung gestellt: an die Adresse derjenigen, die sich permanent anmaßen, mich über Dinge zu belehren, von denen sie selbst nichts verstanden haben. Die mich in Großbuchstaben und mit reichhaltig Ausrufezeichen und auch ansonsten wenig sensibel gegenüber sämtlichen Regeln von Ortografie und Rechtschreibung anpöbeln, ich solle mich, bitte, ´mal informieren.
Man kann über 2020 sagen, was man will, aber es hat die Leute auf die eine oder andere Weise aus ihrer Komfortzone geholt. Oder, je nach Interpretation, auch in die Komfortzone gebracht, weil die Losung schließlich über weite Strecken lautete, dass man mit dem Arsch zuhause bleiben sollte. Apropos Arsch… der Vollständigkeit halber sei das Stichwort „Klopapier“ in die Runde geworfen, ohne das ein Jahresrückblick zwangsläufig unvollständig wäre.
2020 war angesichts diverser einschneidender Ereignisse auch das Jahr, in dem so mancher auf ganz andere dumme Gedanken kam. Ich würde mutmaßen, dass rund die Hälfte der Menschheit sich im abgelaufenen Jahr wenigstens einmal für einen kurzen Moment lang der Überlegung gewidmet hat, ob nicht genau jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, einmal darüber zu sinnieren, was im Leben wirklich wichtig ist.
Da allerdings im selben Jahr von der Fastfoodkette KFC eine Spielekonsole mit integriertem Warmhaltefach für kleine Speisen angekündigt wird, muss auch klar geworden sein, dass man auf die Frage nach Lösungen für die Probleme unserer Zeit eben auch solche Antworten erwarten muss.
Insofern könnte es sein, dass mein Fazit pessimistischer klingt als es gemeint ist, aber: Das neue Jahr kommt so oder so. Was wir daraus machen, liegt irgendwie an uns allen.