Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: Dezember 2020

Hurra, wir leben noch

Die meisten haben ja das Jahr selbst erlebt. Das macht einen Rückblick darauf üblicherweise zu einer leicht abgegriffenen Angelegenheit.

Einerseits.

Andererseits sieht man bekanntlich nicht nur mit dem Zweiten besser und ansonsten nur mit dem Herzen gut, sondern außerdem je nach Standpunkt höchst Unterschiedliches. Das Wembley-Tor 1966 hat auch jeder etwas anders gesehen. Mancher hat den von der Unterkante der Latte auf, vor oder hinter die Linie und von dort ins Spielfeld gesprungenen Ball auch im Netz zappeln sehen. Seitdem rätselt die Fachwelt, an welcher Stelle eines Fußballtores genau der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke, von dem diese Aussage stammt, das Netz anbringt. Souveränes Auftreten bei totaler Ahnungslosigkeit – fraglos ein sehr früher Fall eines Phänomens, das wir seit einiger Zeit verstärkt als Problem nicht nur bei Staatsoberhäuptern wahrnehmen und das halt auch irgendwie zu diesem fast abgelaufenen Jahr 2020 gehört.

Nun mag die Frage, ob sich die Subjektivität der Betrachtung positiv oder negativ auf das Unterfangen Jahresrückblick auswirkt, allein vom Einzelfall entschieden werden. Unabhängig vom Ergebnis darf allerdings festgestellt werden, dass der Rückblick gegenüber dem Ausblick die allemal dankbarere Aufgabe ist. Eine Ausnahme von dieser Regel tritt freilich in Kraft, wenn das, worauf zurückgeblickt werden soll, das Jahr 2020 ist.

Dabei fing das Jahr selbst, wie in solchen Fällen üblich, mit dem 1. Januar noch recht normal an. Für die ersten guten Vorsätze war zwar schon kurz nach dem Ausschlafen Schluss, aber auch das bewegte sich wahrscheinlich durchaus im Rahmen des Gewohnten und konnte die meisten zunächst nicht von der Annahme abhalten, dass sie in 2020 so richtig durchstarten würden. Aber… hinterher und schlauer und immer und so. Man kennt das.

Hätte irgendjemand am 27. 12. 2019 prognostiziert, dass im nächsten Jahr der FC Bayern das Triple gewinnt, der Flughafen BER eröffnet wird und eine Pandemie das gesellschaftliche Leben weltweit auf den Kopf stellt, wäre das mögliche Triple das einzige Ereignis gewesen, dem man eine halbwegs realistische Chance des Eintreffens gegeben hätte.

Nicht dass ich diesem fiktionalen Genre besonders viel abgewinnen könnte, aber gönnen wir uns doch einmal den Spaß, mit dem Wissen von heute die Jahreshoroskope für 2020 daraufhin abzuklopfen, wie gut sie uns durch das Jahr gebracht haben. Der Klassiker, man möge sich mehr um die Gesundheit kümmern, wurde von der Entwicklung definitiv eingeholt, ein weiterer Klassiker („Unternehmen Sie mehr mit Freunden“) von derselben Entwicklung dagegen tendenziell ad absurdum geführt. Der Komplex Beruf und Karriere wurde bei den allermeisten Menschen weniger von der Stellung von Jupiter oder Saturn beeinflusst, sondern davon, ob man Pakete zustellt, Kranke pflegt oder ein Restaurant führt.

Trotzdem habe ich mir ´mal ein Horoskop für das nächste Jahr angeschaut. Sicherheitshalber. Es könnte ja sein, dass mich 2021 irgendein Knaller erwartet. Da würde ich ungern völlig unvorbereitet sein, wenn es soweit ist. Doch dem ersten Anschein nach wird sich das neue Jahr ähnlich wenig Mühe geben wie das alte, irgendetwas Besonderes für mich bereitzuhalten. Teamgeist soll ich halt entwickeln. Was soll das denn jetzt wieder? Jedes Team, das bisher mit mir arbeiten durfte, war stets dann am besten, wenn alle nach meiner Pfeife tanzten. Ich befürchte daher, dass überhaupt nur wenige Menschen so teamfähig sind wie ich. Sollte sich das nächstes Jahr wider Erwarten ändern, nehme ich das gern in Kauf. Bis dahin erledige ich die wichtigen Aufgaben lieber selbst.

„Geben Sie nicht so viel Geld aus für Dinge, die Ihnen nichts nützen“, wird mir noch geraten. Das könnte ich mir übrigens auch gut als Gedächtnisstütze an meinem Monitor vorstellen, wenn ich mir ´mal wieder plötzlich Massagepistolen ansehe, obwohl ich ursprünglich einen neuen Schreibtischstuhl gesucht habe. Doch Spaß beiseite! Das kann man mir zwar nicht oft genug sagen, soll an dieser Stelle allerdings wohl eher davon ablenken, dass es eigentlich in das letztjährige Jahreshoroskop gehört hätte. Eine brauchbare Vorhersage hätte gelautet: „Decken Sie sich am besten im Januar mit Nudeln ein, denn wenige Wochen später drehen die Leute deswegen komplett durch.“

Ansonsten wären mir – bei aller Kritik – Bilder von Fußball-EM und Olympischen Spielen als Gegenstand eines Jahresrückblicks aus ästhetischen wie inhaltlichen Gründen wesentlich sympathischer gewesen als so manche verstörenden Aufnahmen einiger Demonstrationen. Nehmen wir an, jemandem aus diesem erlesenen Kreis der Erleuchteten würde im Verlauf einer Unterhaltung die Phrase „Für wie blöd hältst Du mich eigentlich“ herausrutschen, und Dir fällt partout kein adäquater Vergleich ein, dann hast Du 2020 recht gut zusammengefasst. Allerdings – ich gebe es zu – ist dieses Szenario schon sehr weit hergeholt, und diese Frage gehörte natürlich mehrheitlich in die andere Richtung gestellt: an die Adresse derjenigen, die sich permanent anmaßen, mich über Dinge zu belehren, von denen sie selbst nichts verstanden haben. Die mich in Großbuchstaben und mit reichhaltig Ausrufezeichen und auch ansonsten wenig sensibel gegenüber sämtlichen Regeln von Ortografie und Rechtschreibung anpöbeln, ich solle mich, bitte, ´mal informieren.

Man kann über 2020 sagen, was man will, aber es hat die Leute auf die eine oder andere Weise aus ihrer Komfortzone geholt. Oder, je nach Interpretation, auch in die Komfortzone gebracht, weil die Losung schließlich über weite Strecken lautete, dass man mit dem Arsch zuhause bleiben sollte. Apropos Arsch… der Vollständigkeit halber sei das Stichwort „Klopapier“ in die Runde geworfen, ohne das ein Jahresrückblick zwangsläufig unvollständig wäre.

2020 war angesichts diverser einschneidender Ereignisse auch das Jahr, in dem so mancher auf ganz andere dumme Gedanken kam. Ich würde mutmaßen, dass rund die Hälfte der Menschheit sich im abgelaufenen Jahr wenigstens einmal für einen kurzen Moment lang der Überlegung gewidmet hat, ob nicht genau jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, einmal darüber zu sinnieren, was im Leben wirklich wichtig ist.

Da allerdings im selben Jahr von der Fastfoodkette KFC eine Spielekonsole mit integriertem Warmhaltefach für kleine Speisen angekündigt wird, muss auch klar geworden sein, dass man auf die Frage nach Lösungen für die Probleme unserer Zeit eben auch solche Antworten erwarten muss.

Insofern könnte es sein, dass mein Fazit pessimistischer klingt als es gemeint ist, aber: Das neue Jahr kommt so oder so. Was wir daraus machen, liegt irgendwie an uns allen.

Schöner wohnen

Wer es sich leisten kann, rüstet aktuell sein Zuhause massiv auf. Das ist, da man sich angesichts eines um sich greifenden neuartigen Virus´ so oft es geht ausschließlich dort aufhalten sollte, so verständlich wie konsequent. Aber auch für den schmalen Geldbeutel ist ein schöneres und gemütlicheres Heim kein reines Luftschloss. Die Gleichung für ein attraktiveres Heim lautet: Keine Veranstaltungen = keine Tombolas = keine Lose = keine Preise = weniger Zinnober in der Bude. Und das Beste: Endlich kann man ´mal durch Unterlassen Gutes tun. In einer Auflistung von Dingen, die ich rein gar nicht vermissen würde, sollte es sie von jetzt auf gleich nicht mehr geben, würden Tombolas immer auf den ganz vorderen Rängen landen.

Zwar gilt die Problematik um die beliebten Verlosungen prinzipiell ganzjährig, ihren Höhepunkt erreicht sie jedoch regelmäßig in der Vorweihnachtszeit. Ganz als ob nicht jeder von uns nur wenige Tage später ohnehin ausreichend mit Plunder beschenkt wird, der im Grunde nicht benötigt wird. Immerhin: Der These folgend, dass viele spätere Tombolapreise ursprünglich unliebsame Geschenke waren, sorgt das Weihnachtsfest, wie es gemeinhin praktiziert wird, für steten Nachschub an mehr oder minder brauchbaren Gewinnen bei der Weihnachtsfeier von Gesangs-, Tischtennis- oder – gibt es wirklich – Zuckersammlerverein.

Nun ist es ja nicht so, dass ich erst eine Bescherung bräuchte oder bei einer Tombola das große Los ziehen müsste, um mir die Wohnung mit Schrott voll zu stellen. Tinnef-freie Zonen mag es geben, hat mich als Gesamtkonzept allerdings nie so recht abgeholt, wie man heute zu sagen pflegt. In meinem Männerhaushalt konnten sich schon immer Staubfänger ansammeln, bei denen die Frage, ob das denn noch Punk sei, zu Recht gestellt und negativ beschieden werden durfte. Ich besitze genügend Gegenstände, von denen ich im Nachhinein nicht mehr so überzeugt bin wie ich es zum Zeitpunkt der Anschaffung noch gewesen war. Schon der Umstand, dass Kaufentscheidungen im allgemeinen nicht rational gefällt werden, sorgt für regelmäßigen Nachschub in dieser Hinsicht, so dass ich im Brustton der Überzeugung behaupten kann: Ich weiß, wovon ich rede, wenn ich über inadäquate Alltagsgegenstände referiere. Doch die Tombolas, die ich in meinem bisherigen Leben gesehen habe, stellen selbst meinen Geschmack in den Schatten.

Allein schon die Souveränität, mit der jedes denkbare Klischee erfüllt wird: Schlüsselanhänger, Kugelschreiber und Kalender – auf welchem Mangelempfinden beruht das Bedürfnis, sich Lose einer Tombola zu kaufen, die zu einem Drittel aus Preisen solcher Güteklasse bestückt ist? Ein weiteres Drittel sind bizarre Gegenstände, deren Nutzlosigkeit selbst die Redaktionen von Homeshopping-Sendern von dem Versuch abhalten würde, diese unters Volk zu bringen. Das letzte Drittel besteht aus Gütern, die immerhin einen Gebrauchswert größer oder gleich desjenigen eines x-beliebigen Gimmicks aus einem Yps-Heft haben. Und wegen genau dieses Drittels kauft man Lose. Mit etwas Glück bekommt man einen Gegenwert, aber die Zweifel, ob man nicht auch ohne diesen Kram ein recht erfülltes Leben führen könnte, werden zu keiner Zeit ausgeräumt. Damit wäre eigentlich schon alles über Tombolas gesagt. Eigentlich ist eine Tombola wie eine Bestellung bei Wish: a) Man weiß nicht, ob man überhaupt etwas bekommt. b) Selbst wenn man etwas bekommt, kann man sich nicht darauf verlassen, dass es auch das ist, was man ursprünglich wollte. c) Im günstigsten Fall bekommt man etwas, das man vorher gewollt hat, trotzdem aber nicht wirklich benötigt.

Halten wir bis hierhin das Prinzip des klassischen Tombolapreises fest: Zu schade, um es sofort wegzuwerfen, andererseits zu unnütz, um irgendetwas damit anzufangen, das über das bloße Hinstellen hinausgeht. Man kann das Risikopotenzial eventuell schon erahnen. Es wurden in der Vergangenheit jedenfalls schon deutlich geringere Grundlagen als Ausgangsbasis für später stattliche Sammlungen benötigt. Mit nur ein bisschen Pech mehr wird aus dem Loskauf für einen guten Zweck eine besessene Jagd nach Waldtieren aus Keramik.

Es sagt zudem bereits einiges, wenn nicht gar alles über den Rest der Veranstaltung aus, wenn die Verlosung dieser Ansammlung von Flohmarktartikeln als Höhepunkt des Abends angekündigt wird.

Wenn ich als Kind bei den Verlosungen des Kegelclubs meiner Eltern mit unserer Ausbeute nicht zufrieden war, hatte ich immerhin noch das Glück, dass meine Mutter sich im weiteren Verlauf des Abends stets ausreichend Verhandlungssicherheit angetrunken hat, um wenigstens einen Teil unserer Preise drei Tische weiter gegen etwas einzutauschen, das geringfügig weniger sinnlos war. Auf diese Weise wurde am späten Abend aus einem Eiskratzer noch eine Biographie von Peter Alexander. Das machte die Angelegenheit nicht besser. Aber mit dem Prinzip, eine Sache irgendwie recht akzeptabel zu finden, weil das komplette restliche Angebot noch beschissener ist, hatte ich immerhin schon als Kind ein wesentliches Element kennenlernen dürfen, das mir später bei Wahlen vom Vereinsvorstand bis zum Bundestag wiederbegegnen sollte.

Inzwischen habe ich selbst einen Sohn in etwa in dem Alter, in dem ich mit acht Jahren gewesen bin. Klar, dass der Kleine von mir schon den ein oder anderen Schwung Lose oder auch einen Dreh am Glücksrad spendiert bekam. Mit den altbekannten Ergebnissen, nur dass am späten Sonntagnachmittag, wenn seine Sachen gepackt werden, die Lotterie in eine zweite Runde geht. Mit der nur mäßig subtilen Manipulation „Das willst Du ja bestimmt bei Dir zuhause Deiner Mama zeigen und dann in Eurer Wohnung auf einen Ehrenplatz stellen“ versuche ich die Entscheidung „zu ihr oder zu mir“ regelmäßig in Richtung etwas größerer Schadenfreude meinerseits zu beeinflussen. Um am Ende feststellen zu müssen, dass die alte Fußballerweisheit „Mal verliert man, mal gewinnen die Anderen“ sich 1:1 auf mein Leben übertragen lässt.

Wenn man die Ereignisse isoliert voneinander betrachtet, könnte man das alles für Pech halten. In der Gesamtschau ergibt sich jedoch das Bild: Hinter so viel Ungemach kann nur ein System stecken. Manchmal natürlich auch Blödheit. Denn dass bei einer Tombola des Kickers-Fanmuseums die Gefahr recht hoch ist, einen leider schwer entflammbaren Gegenstand mit Bezug zu diesem Verein zu erhalten, sollte auch einem in Wahrscheinlichkeitsrechnung unbedarften Menschen sofort einleuchten.

Deutlich mehr Chancen, einen Volltreffer zu landen, hatte ich bei einer Begebenheit, die sich in meiner Jugend abgespielt hat: Es galt, aus den zig Flaschen Wein, die bei uns im Keller lagerten, eine auszuwählen, die fortan diesem ewigen Kreislauf, Jahr für Jahr erneut für die nächste Tombola gestiftet zu werden, gezielt entzogen und einem edleren Ziel zugeführt werden sollte: Dem Test, welche Mengen Alkoholika welche körperlichen Reaktionen bei zwei soeben 16 Jahre alt gewordenen Buben, einer davon ich, hervorrufen. Das Ergebnis war ein Erlebnis: Der hat so nach Essig gestunken, dass er für unsere Zwecke nicht mehr zu gebrauchen war. Zwar wurde er auf diese Weise seiner Funktion als Tombolagewinn maximal gerecht. Das vermochte aber an diesem Abend den Verlust nicht auszugleichen, dass ein ungenießbarer Wein für unser ursprüngliches Ansinnen definitiv nicht zielführend war. Von den etwa 30 Flaschen Wein, die ich zur Auswahl hatte, habe ich zielsicher den mutmaßlich einzigen Wein erwischt, bei dem man schon kotzen muss, bevor man ihn trinkt. Das hat nicht nur mein Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten nachhaltig erschüttert, sondern auch meine Beziehung zu Wein bereits zu einem Zeitpunkt zerstört, bevor ich eine solche Bindung überhaupt aufbauen konnte. Wein, sofern nicht aus Äpfeln hergestellt, war fortan kein Thema mehr.

Ob es nicht schlauer gewesen wäre, schon ab diesem Zeitpunkt die Finger nicht nur von Wein, sondern generell von Tombola-Losen zu lassen – man weiß es nicht.

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén