Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: Oktober 2020

Vom Lesen und Sterben

Manchmal müssen Pläne über Bord geworfen werden. Es muss nicht erst eine Buchmesse pandemiebedingt nicht in gewohnter Form stattfinden können, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Oftmals reicht dafür eine mittlere Portion Lebenserfahrung aus.

Gerade mit zunehmendem Alter wird man tendenziell häufiger feststellen, dass bestimmte Ziele einer kritischen Überprüfung bedürfen. Beispiel: Selbst wenn es jemals realistisch gewesen wäre, dass ich Weltranglistenerster im Tennis werde, sollte ich allmählich akzeptieren, dass dieser Zug mit nunmehr 48 Jahren auf dem Buckel vor einer Weile schon abgefahren ist. Zumal ich in all der Zeit nie angefangen habe, überhaupt professionell zu spielen, gibt es deswegen allerdings gar keinen Anlass, mit dem Schicksal zu hadern. Manchmal ist aufgeschoben am Ende eben doch aufgehoben.

Bedeutsamer als die Erkenntnis, im Spiel des Lebens ein oder mehrere Male verkehrt abgebogen zu sein, ist doch sowieso, dass man sich immer öfter bei Rechenspielen ertappt, wie viele Jahre, vorausgesetzt, es möge „gut laufen“, wohl noch bleiben werden. Zudem mehren sich die Situationen, die einem signalisieren: Aufgepasst! Weil leider nicht garantiert werden kann, dass es „gut läuft“, könnte das alles theoretisch früher vorbei sein als Du Dir aktuell vorzustellen vermagst. Falls man also vorgehabt hatte, der Nachwelt irgendetwas Bleibendes zu hinterlassen, wäre dann nicht exakt jetzt der richtige Zeitpunkt, damit wenigstens endlich ´mal anzufangen?

Jetzt gehöre ich ja einer Generation an, die allen nachfolgenden vor allem verbrannte Erde hinterlässt und im negativen Sinn eindrucksvoll demonstriert, wie man einen so unsagbar faszinierenden Planeten gerade nicht behandeln hätte sollen. Falls also jemand auf die Idee käme, zu sagen: „Lass´ stecken, Alter! Die Mit-Verantwortung beim Zerstören unserer Lebensgrundlagen ist uns eigentlich genug. Auf weitere Beiträge können wir gut verzichten“ – was genau könnte ich schon entgegnen außer demütig meinen Kopf zu senken?! Dabei hatte ich doch einen nicht unbeträchtlichen Teil meines Lebens damit verbracht, das System zu ficken, eine freie Gesellschaft zu entwerfen und den Weg dorthin zu skizzieren, bevor ich auch diese Pläne mehr oder weniger über Bord warf.

Pläne über Bord werfen. Da eine Buchmesse recht regelmäßig stattfindet, erinnert sie mich einigermaßen zuverlässig einmal im Jahr daran, dass ich einst mein Ziel, in irgendeiner Weise durch Schreiben berühmt zu werden, nach unten korrigieren musste. In meinem Alter kann man wahrscheinlich ohne allzu große Sorge, vorschnell als Pessimist abgeurteilt zu werden, feststellen: Einfacher wird ein solch ehrgeiziges Vorhaben mit fortgeschrittenem Alter eher nicht mehr. Dafür, immerhin, bin ich ohne es zu wollen in die Hauptzielgruppe der Buchbranche gerutscht: Die Hälfte aller Bücher wird von Leuten über 45 Jahren gekauft. Die Ironie der Geschichte: Seit einigen Jahren beobachte ich an mir ein schleichend sich ausbreitendes Desinteresse an diesem Medium. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Entwicklung mit einer Problematik zusammenhängt, die Arthur Schopenhauer schonungslos wie folgt formuliert hat: „Es wäre gut Bücher kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, mitkaufen könnte, aber man verwechselt meistens den Ankauf der Bücher mit dem Aneignen ihres Inhalts.“

Die verstärkte Berücksichtigung des Faktors Zeit führt aber nicht allein zu einer verringerten Anzahl an Neuerwerbungen. Sicher nicht ganz zufällig wird das Bücherregal häufiger als früher einer gründlichen Inventur unterzogen und um einige Titel reduziert, die in diesem Leben definitiv nicht mehr gelesen werden. Die wichtigste Maßnahme zu einem nachhaltigeren Umgang mit der Ressource Zeit ist allerdings: Man muss nicht mehr jeden Mist, den man einmal angefangen hat, bis zum Schluss durchziehen.

Wenn ein Buch seinen Leser verliert, geschieht das durchschnittlich auf Seite 18. Ja, ich wüsste selbst auch gern mehr darüber, wie wohl das Forschungsdesign ausgesehen hat, das zu diesem Ergebnis geführt hat, kann aber anhand eigener Erfahrungen zu diesem Thema beistimmen, dass dieser Wert zumindest nicht komplett aus der Luft gegriffen wirkt. Man muss ja nicht einmal mit den Maßstäben eines frustrierten Studienrates an die Sache herangehen, um zu registrieren, dass bei Büchern teils genauso viel Schrott produziert wird wie in jeder beliebigen anderen Branche. Es darf demnach niemanden ernsthaft wundern, dass man mit dem ein oder anderen Werk einfach ´mal einen Fehlkauf getätigt hat. Bei Schuhen, Fleckenentfernern oder Hemdenbüglern geschieht das ständig, aber da sage ich ja auch nicht: Okay, am nächsten Abend benutze ich das aber trotzdem wieder. Dass ich allzu oft ein Buch bis zum Ende gelesen habe, obwohl ich früh ahnte, dass da vermutlich nicht mehr viel kommt, gehört zu den wenigen Dingen, die ich mir rückblickend wirklich vorzuwerfen habe. Daher ist die Idee, auch ein Buch einfach ´mal über Bord zu werfen, wenn es nicht hält, was es verspricht, gar nicht einmal so banal, wie es zunächst klingt. „Bücher und Freunde soll man wenige und gute haben“, lehrt uns das Sprichwort. Dass Bücherfreunde pandemiebedingt dieses Jahr auf ihr Großereignis verzichten müssen, ist bedauerlich. Letzten Endes sehe ich aber lieber einen Plan über Bord gehen als einen Freund.

Autsch!

Früher oder später muss man sich der Wahrheit stellen: Eine negative Begleiterscheinung des Älterwerdens ist, dass man irgendwann ohne es überhaupt bemerkt zu haben diesen einen Punkt überschritten hat, ab dem es nicht mehr die Ausnahme, sondern Regel ist, dass es am Körper hier zwickt und dort drückt.

Klar – im Vergleich zu manch erheblich jüngerem Kollegen scheine ich vor Gesundheit nur so zu strotzen. Dennoch hat man ab einem gewissen Alter seinem Körper gegenüber eine besondere Verantwortung. Und diese beinhaltet: Setze Deine Gesundheit nicht aufs Spiel, indem Du anfängst, Sport zu treiben.

Zwar wird von interessierter Seite allenthalben auf die positiven Aspekte regelmäßiger Körperertüchtigung hingewiesen. Wer allerdings beispielsweise beim Boxkampf gerade nach allen Regeln der Kunst vermöbelt wurde, lässt sich von dem Hinweis, dass man damit einen angemessenen Beitrag zur Vorbeugung gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen geleistet hat, für weitere Trainingseinheiten unter Umständen nicht mehr so einfach motivieren.

Die Wissenschaft hat festgestellt: Jeder fünfte Unfall in Deutschland ist auf Sport zurückzuführen. Das Risiko ist freilich höchst unterschiedlich auf die verschiedenen Sportarten verteilt. Logisch – dass Bergsteigen oder Springreiten riskanter ist als Schwimmen oder Schach, scheint banal. Die Top 3 der gefährlichsten Sportarten lauten aber Radfahren, Skifahren und – wie sollte es auch anders sein – Fußball. Keine nennenswerte Überraschung: Beim Fußball betreffen Verletzungen meistens die Beine. Doch schon seit im Jahr 1969 Friedel Rausch im Schalker Dress während des Spiels von Schäferhunden des Dortmunder Ordnungsdienstes gebissen wurde, weiß man, dass das Risiko beim Fußball auch Körperzonen betrifft, die nur noch gerade so unterhalb der Gürtellinie liegen.

Dass beim Turmspringen der Kopf besonders gefährdet ist, klingt bereits deutlich weniger offensichtlich. Dennoch ist älteren Semestern eventuell noch Olympia 1988 in Erinnerung, als Greg Louganis vom Drei-Meter-Brett nicht optimal abgesprungen ist und beim Strecken vor dem Eintauchen mit dem Hinterkopf das Brett touchierte. Nun fährt man als Sportler mit Gold-Ambitionen selbstredend nicht nach Seoul, um sich von einem kleinen Kratzer aus dem Konzept bringen zu lassen. Eine gute halbe Stunde nach diesem Missgeschick, die Platzwunde wurde mit fünf Stichen genäht, stand er wieder oben und absolvierte den nächsten Qualifikationssprung. Dass er in der Endrunde am nächsten Tag den ersten Platz belegte, als wäre nie etwas gewesen, ist der zweite Teil dieser Geschichte.

Die meisten Sportverletzungen freilich müssen ohne ein solches spektakuläres Happy End auskommen. Als beispielsweise der Fußballtorwart Volkan Demirel nach dem Spiel sein Trikot in die Zuschauerränge warf, hatte er damit zwar einen Fan glücklich gemacht, sich selbst allerdings eine dreiwöchige Pause eingehandelt, weil er sich dabei die Schulter auskugelte. Schlimmer geht immer: Elkin Soto, seinerzeit in Diensten des FSV Mainz 05, erlitt einen Hexenschuss – wohlgemerkt nach dem Training, nämlich beim Binden seiner Schuhe. Das gleiche Accessoire wurde auch dem Baseballprofi Will Smith zum Verhängnis: Beim Versuch, einen Schuh auszuziehen, erlitt er einen Außenbandriss im Knie.

Wie sich hier schon andeutet, liegt die Wahrheit im Falle von Verletzungen nicht ausschließlich auf dem Platz, sondern oft exakt dort, wo der Legende nach die meisten Unfälle passieren: Im Haushalt.

Der Baseballspieler John Smoltz wollte ein Shirt bügeln. Wie es ihm gelang, mit diesem alltäglichen Vorgang Schlagzeilen zu generieren: Er trug es noch am Körper. Ich frage mich, wie er sich verhalten hätte, wenn er das Shirt vorher noch hätte waschen wollen.

Ich mag nicht ungerecht erscheinen. Schließlich habe ich selbst auch schon die eine oder andere Entscheidung getroffen, die sich nachträglich als nicht der Weisheit letzter Schluss entpuppte. Trotzdem bilde ich mir ein, dass dieser Vorfall nicht in die Kategorie „Hätte jedem von uns passieren können“ fällt.

Zurück zum Fußball: Die ganz hohe Kunst des Missgeschicks demonstrierte Robbie Keane. Wo andere Sportler Fremdeinwirkung, eine Mülltonne oder wenigstens eine heruntergefallene Seifenschale benötigen, um sich selbst größtmöglichen Schaden zuzufügen, reicht Keane eine Fernbedienung. Ausgepowert vom Training und nicht willens oder in der Lage, sich noch einen Millimeter zu bewegen, versuchte er, mit seinem Fuß an die Fernbedienung zu gelangen. Er musste einsehen, dass ein guter Fußballer nicht zwangsläufig ein Akrobat ist, als das Resultat seiner Bemühungen feststand: Doppelter Bänderriss.

Regeneration ist wichtig, birgt aber auch Gefahren. So kommentierte Uwe Klimaschefski als Trainer des FC Saarbrücken einst den Ausfall eines seiner Schützlinge trocken: „Er hat sich im Bett verletzt. Wie er das gemacht hat, weiß ich allerdings nicht.“

Dass der nächste Gegner immer der schwerste ist, gilt als Binsenweisheit. Was aber, wenn dieser Gegner nicht Borussia, Fortuna oder Lokomotive heißt, sondern, Auto, Badezimmer oder Haustier?! Man ahnt angesichts mancher Beispiele vielleicht auch, dass bei den Angaben zu den Ursachen Dichtung und Wahrheit nicht immer zweifelsfrei auseinanderzuhalten sind. In manchem Fall könnte der tatsächliche Ablauf nicht nur glaubwürdiger, sondern auch weniger peinlich sein als der geschilderte. Andy Carroll zum Beispiel gab sich gar nicht erst die Mühe, das Warum seiner Oberschenkelverletzung in irgendeiner Weise zu beschönigen, als er vom Barhocker gefallen war.

Schlussendlich gibt es noch die Fälle, bei denen der Beobachter denkt: Falls das eine Ausrede ist, will ich den wirklichen Grund besser gar nicht erst wissen. In diese Kategorie fallen in die Nase gerammte Autoantennen oder durch Niesen hervorgerufene Bauchmuskelzerrungen. Oder dieser besonders schöne Fall: Darius Vassell hatte eine Blutblase, die aufzustechen sich als schwierig gestaltete, weil sich noch ein Zehennagel darüber befand. Der englische Stürmer dachte sich: Für genau solche Fälle habe ich mir doch irgendwann einmal eine Bohrmaschine zugelegt…

Okay, hier in Offenbach wird man wahrscheinlich eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Menschen finden können, die fragt „Und – was ist daran jetzt so außergewöhnlich?“ Trotzdem: Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man glatt annehmen, Sport macht vor allem dumm. Dass bei dieser Aktion natürlich auch der Zeh selbst in Mitleidenschaft gezogen wurde, kann angesichts der Absurdität des gesamten Vorhabens ohne Verdacht auf Zynismus als Kollateralschaden abgehakt werden. Zur Entkräftung von Vorurteilen über mangelnde Intelligenz von Fußballern war diese Nachricht jedenfalls ein eher kontraproduktiver Beitrag.

Aber solange das Herz-Kreislauf-System bestens in Form ist, kann ja nichts passieren.

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