Grau ist alle Theorie: Dass der Mensch potenziell 2 Millionen unterschiedliche Farbtöne erkennen kann, bringt ihn im Arbeitsalltag eines Versandhandels für Bekleidung nur bedingt weiter, wenn man schon an den einfacheren Aufgaben scheitert und statt eines weißen T-Shirts ein schwarzes zur Auslieferung bereitstellt. Wird ein solcher Lapsus bei der Ausgangskontrolle übersehen, erlebt der Kunde später sein blaues Wunder. Erlangt der Lagerleiter, personell übrigens maximal übereinstimmend mit dem Verfasser dieser Zeilen, Kenntnis von einer solchen Fehlleistung, sieht dieser allein deshalb nicht rot, weil ihm in der Vergangenheit selbst schon dasselbe Missgeschick unterlaufen ist.
Wobei das Rot-Sehen an sich schon oft leichter gesagt als getan ist. Stiere zum Beispiel können kein Rot erkennen. Dies hat zwar, da ein Stier hierzulande nicht das typische Haustier ist, für die meisten Menschen eine nur geringe praktische Bedeutung. Allerdings kennt man ja die Bilder von Stierkämpfen, bei denen der Torero mittels eines roten Tuches die Aufmerksamkeit des Tieres auf sich lenken möchte. Entgegen der weit verbreiteten Annahme geschieht dies nicht durch die Farbe des Tuches, sondern durch das unruhige Herumwedeln damit. Theoretisch könnte der Matador also genauso gut mit einem gelben Tuch gestikulieren. Weil die Farbe Gelb unter anderem Lebensfreude symbolisiert, wäre das auch nur geringfügig zynischer als die ursprüngliche Tradition mit einem weißen Tuch.
Da jedoch nur eine verschwindend geringe Menge der hier Mitlesenden eine Karriere als Stierkämpfer anstreben dürfte, soll die Aufmerksamkeit wieder dem Lagergeschehen zugewendet werden: Wenn deutschlandweit jeder 20. von Farbenfehlsichtigkeit betroffen ist, wäre es eine Art statistischer Artefakt, wenn unter insgesamt inzwischen fast 40 Kollegen kein Farbenblinder vertreten wäre. Wenn ich die Häufigkeit von Fehlern zugrundelege, müssen sie bei uns sogar überrepräsentiert sein. Nach dem Motto „Nachts sind alle Katzen grau“ wird ohne Rücksicht auf Verluste das Lager kurz und klein kommissioniert. Wenn ein Artikel in der Farbe deep chocolate benötigt wird, kann man sich auch ohne intensives Begutachten des Artikelfotos wenigstens in etwa denken, dass ein cremefarbenes Teil nicht ganz der Bestellung entspricht.
Aber natürlich weiß selbst ein des Schwarz-Weiß-Denkens so kundiger Mensch wie ich, dass etliche Farbbezeichnungen nicht der Weisheit letzter Schluss sind und zu Verwechslungen geradezu einladen: Es gibt Sand, der so hell ist wie creme. Umgekehrt habe ich schon Cremes gesehen, die dunkler waren als jeder Sand.
Es gibt Flieder in allesamt tollen Farben, die sich voneinander allerdings so stark unterscheiden, dass die Farbbezeichnung flieder beim Wort genommen eigentlich mehr Unklarheiten schafft als beseitigt. Wenn man die verschiedenen Farben des Flieders kennt, kann man allein mit diesem Wissen gerade nicht intuitiv erfassen, welche davon gemeint ist, wenn jemand von fliederfarben spricht. Um mitreden zu können, muss man also zusätzlich wissen, welcher Ton dem Begriff zugeordnet ist. Dieser Logik folgend könnte man allerdings auch die Farbbezeichnung „Fleischwurst“ einem hellen Grau zuordnen. Nicht alle, aber einige Fleischwürste bilden dieses Grau ganz gut ab. Mit anderen wiederum kann man diese Farbe auf recht einfache Art simulieren: Man muss dazu lediglich an einem relativ warmen Sommertag morgens vergessen, die Wurst wieder kühl zu legen. Schon hat man abends nicht nur eine perfekte graue Fleischwurst, sondern gleichzeitig auch die Illusion, man könne Farben riechen.
Die Praxis mancher unserer Lieferanten, den Kunden regelmäßig Neues anbieten zu wollen und zu diesem Zweck vorhandene Farben minimal abzuwandeln und mit einer Bezeichnung mit dem Verwirrungsfaktor 11 von 10 zu versehen, macht die Lage in etlichen Fällen nicht direkt übersichtlicher. Kaum dass man sich an heather denim gewöhnt hat, präsentiert der Hersteller mit heather snow mid blue plötzlich dasselbe in Grün.
Manchmal freilich bringen auch die Lichtverhältnisse die Farben zum Tanzen. So kann ich mich an eine Hose erinnern, die im Schein des Lichtes bei TK Maxx so orange ausgesehen hat, dass ich dachte, wer die trägt, sollte aufpassen, dass ihm die Leute auf der Straße nicht noch Müllbeutel in die Hand drücken. Unter Tageslicht war davon nichts übrig, das satte Orange vielmehr einem herbstlichen rost gewichen. Es ist eben nicht alles Gold, was glänzt.
Am Rande erwähnt, wirken nach Erkenntnissen der Farbpsychologie Träger von orangener Kleidung nicht schlau. Menschen, welche die Ergebnisse dieser Studien ins Niederländische übersetzen, werden übrigens noch gesucht. Wer dagegen intelligent, seriös und selbstsicher wirken möchte, trägt schwarz. Rot wäre ebenfalls noch ein gangbarer Weg: Dominant, hoher Status, daher attraktiv wären die dazugehörigen Schlagworte.
Eigene Beobachtungen während des Tragens eines Nikolauskostüms ließen allerdings begründete Zweifel an der Validität dieser Untersuchungen aufkommen.