Im Sachwörterbuch der Literatur wird eine Sage als „kurze Erzählung von fantastischen, die Wirklichkeit übersteigenden, Ereignissen“ definiert. „Da diese mit realen Begebenheiten, Personen- und Ortsangaben verbunden werden, entsteht der Eindruck eines Wahrheitsberichts.“ Dieses Wissen könnte helfen, die Wettervorher-Sage in Zukunft besser einzuordnen.
Mittwoch, 19.13 Uhr
„Monster-Orkan im Anmarsch“ Schon zu oft offenbarten solche Überschriften lediglich, dass die Wetterfrösche bei der Genauigkeit ihrer dahinter enthaltenen „Schock-Prognosen“ noch reichlich Luft nach oben haben. Mehr als einmal korrespondierte der Text in keinster Weise mit der Schlagzeile. Vor diesem Hintergrund vermute ich zunächst, dass der angekündigte Orkan ausgeht wie das Hornberger Schießen; das Lesen solcher Meldungen erfolgt inzwischen ausschließlich zu meinem Amüsement.
Mittwoch, 19.16 Uhr
Nachdem ich aus seriöser einzuschätzenden Quellen erfahre, dass da in der Tat etwas auf uns zukommt, das zu unterschätzen man lieber sein lassen sollte, ist aber Schluss mit lustig. Da meine Freundin sonntags für gewöhnlich irgendwann von Offenbach aus den Heimweg nach Bad Nauheim antreten muss, ist mit dieser Nachricht quasi die Diskussion eröffnet, wie wir ihren Rücktransport diesmal am besten bewerkstelligen könnten. Da Beamen als Alternative mir aktuell als noch unsicherer als eine Bahn- oder Autofahrt im Sturm erscheint, verrate ich ihr erst gar nicht, dass ich über diese Möglichkeit überhaupt nachgedacht habe.
Donnerstag, 20.00 Uhr
Wie sehr der nahende Sturm Deutschland im Vorfeld schon im Griff hat, merkt man daran, dass das Thema sogar das Coronavirus von der Tagesordnung verdrängt hat.
Donnerstag, 21.43
Eine Meteorologin beklagt sich, die Verwendung von Vokabular wie „Monster-Orkan“ beschädige den Ruf ihres Standes. Andere Vertreter ihres Standes haben bei anderer Gelegenheit schon erklärt, für die reißerischen Überschriften mancher Medien nichts zu können. Seriös zu beurteilen weiß man inzwischen immerhin, dass der Wind am Sonntag knackig, aber nicht monstermäßig wird. Vorläufiges Zwischenfazit: Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.
Sonntag, 7.30 Uhr
Oh-oh! Es kommt knüppeldick: Fußball fällt aus. Die Bundesliga-Partie Mönchengladbach gegen Köln wird abgesagt.
Jetzt müssen Entscheidungen getroffen werden: Zum Beispiel, ob das Wortspiel, die Kölner hätten in den letzten Wochen ohnehin genügend Probleme mit ihrem Sturm gehabt, für mich gerade noch akzeptabel ist, um hier aufgenommen zu werden, oder doch schon zu platt. Die Sturmflut an schlechten Wortspielen ist hiermit eröffnet. Damit niemand behaupten kann, ich wäre nicht jederzeit bereit, immer noch einen draufzulegen, schiebe ich nach: Ich hingegen könnte an diesem sonnigen Morgen Bäume ausreißen und genieße ein wenig die Ruhe vor dem Sturm.
Sonntag, 16.00 Uhr
Jetzt geht’s los! Der Sturm erreicht Deutschland. Gebannt warten bundesweit Online-Redakteure und ich mit ihnen, dass irgendwo in dieser Republik der erste Sack Reis umfällt.
Sonntag, 16.04 Uhr
Die Freundin sitzt im Zug. Unser gemeinsames Wochenende ist im Namen der Sicherheit um etwa drei Stunden verkürzt. Was in manch anderer, bereits länger währender Beziehung als durchaus angenehme Begleiterscheinung einer solchen Extremwetterlage empfunden werden könnte, ist in unserem Fall wenig geeignet, Stürme der Begeisterung hervorzurufen.
Sonntag, 19.10 Uhr
Bis jetzt sind die Voraussagen überwiegend nur warme Luft: Ein paar umgefallene Dixiklos hier, einige umgestürzte Bauzäune dort. Bis hierhin also nichts, was wir mit vier bis fünf Leuten an einem durchschnittlichen Abend früher nicht auch ohne Sturm gerade noch so hinbekommen hätten.
Auch unter dem Label „Heimspiel Kickers Offenbach“ sind solche Erscheinungen eigentlich eher Regel als Ausnahme. Von daher immer noch kein besonderer Grund zur Beunruhigung.
Sonntag, 20.45 Uhr
Obwohl das ganz große Chaos nach wie vor nicht in Sicht ist, ziehe ich die letzte Hunderunde zeitlich etwas vor. Kälter ist es inzwischen geworden. Eine Erklärung hierfür wären gesunkene Temperaturen. Es könnte allerdings auch daran liegen, dass ich zwar den Vorsatz fasste, mir einen anderen Pullover überzustreifen, nach dem Ausziehen des ursprünglichen jedoch einfach vergaß, den anderen anzuziehen.
Montag, 1.30 Uhr
Der Wind scheppert recht ordentlich. Jedenfalls reicht es, mich zu wecken.
Montag, 1.35 Uhr
Poi-Schwingen im Park macht bei dieser Witterung absolut keinen Spaß. Nicht dass ich es probiert hätte, schon gar nicht um diese Uhrzeit, aber man macht sich halt so seine Gedanken. Und wenn man selbst einmal eine bloße Vermutung ungeprüft als Erkenntnis ´raushaut, versteht man eventuell auch besser, was gewisse Meteorologen dazu antreibt, das Gleiche regelmäßig zu tun.
Montag, 8.00 Uhr
Noch immer wartet man auf Meldungen mit einem gewissen Nachrichtenwert fast vergeblich. Ein paar Gleise müssen geräumt werden; niemand weiß, wann eine S-Bahn fährt und wohin – selbst für die Bahnfahrer ist also alles wie gewohnt.
Montag, 9.05 Uhr
Fast pünktlich erreiche ich die Arbeit, die Verzögerung ergibt sich durch Mitnahme einer Kollegin, die sonst auf die noch nicht wieder fahrende Bahn angewiesen gewesen wäre.
Es ist noch etwas stürmisch, aber das Schlimmste ist offenbar überstanden. Das Unwetter befindet sich zur Stunde noch über Bayern. Größere Schäden sind demnach ab jetzt nicht mehr zu erwarten, selbst wenn das Sturmtief Sabine jetzt nochmal richtig loslegen sollte.
Wenn man bedenkt, dass ich Sonntag Vormittag noch Ausweichrouten studiert habe, auf denen ich am nächsten Tag heil auf die Arbeit komme, ohne durch Wälder fahren zu müssen, fühle ich mich durch folgenden Sachverhalt etwas verarscht: Ermutigt durch die bislang glimpfliche Zwischenbilanz wage ich den gewohnten und kürzesten, jedoch waldreichen Weg, und der einzige umgestürzte Baum, den ich zu sehen bekomme, befindet sich fernab jeglicher Wälder kurz vor dem Ziel.
Montag, 9.20 Uhr
Auf der Arbeit dauert es nicht lange, bis ich die Ereignisse der vergangenen Nacht angemessen einordnen kann. Ich formuliere es ´mal so: Ich habe schon mit Leuten zusammenarbeiten müssen, die in kürzerer Zeit größeres Chaos angerichtet haben als dieser Sturm im Wasserglas.
Montag, 18.00 Uhr
Deutschland kann allmählich seine Trampoline wieder einsammeln, die des Nachts vom Winde verweht wurden. Manch einer wird auch genau darauf spekuliert haben: es auf diese Weise günstig entsorgt bekommen zu haben. Die Kinder sind mit ihren 23 und 26 Jahren sowieso schon einige Zeit aus dem Alter ´raus, aber dem Kirchenaustritt nicht unähnlich war man bislang zu bequem, sich einfach ´mal darum zu kümmern und das Teil zum Entsorgungsunternehmen zu fahren. Andere mögen sich auch darüber gefreut haben, über Nacht unverhofft so ein Teil in den Hof geliefert bekommen zu haben. Wiederum andere werden ordentlich gewettert haben, als ihnen so ein Gerät auf dem Zentralfriedhof plötzlich den Weg versperrte.
Montag, 19.20 Uhr
Es ist wichtig und richtig, dass bevorstehende Extremwetterlagen angekündigt werden. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig gewarnt. Dass aber inzwischen jeder Schauer zum Jahrhundertereignis hochgejazzt wird, nervt! Gibt´s da nicht etwas von ratiopharm?
Montag, 22.22 Uhr
Man kann nicht behaupten, dass „Orkan“ ein besonders populärer Vorname wäre. Nicht einmal einer von 100.000 Jungen wird Orkan genannt. In der Beliebtheitsrangliste reiht er sich noch deutlich weiter unten ein als beispielsweise der ebenfalls schon selten genug auftretende Mädchenvorname „Tuba“. Ein kleiner Tipp übrigens für alle werdenden Eltern, die sich momentan mit solchen Entscheidungen auseinanderzusetzen haben: Für Mädchen, die später einmal nicht ganz schlank sein werden, könnte sich der Name Tuba im Nachhinein als inadäquat herausstellen.
Um also dem Namen Orkan zu mehr Renommee zu verhelfen, spare ich ab sofort, um irgendwann 355 Euro für die Namenspatenschaft für ein Hochdruckgebiet aufbringen zu können. Der Dank der Presse in Form von Schlagzeilen wie „Orkan bringt viel Sonne und Temperaturen um 25 Grad“ wäre es mir fast wert.
Viel irreführender als jetzt schon manchmal können die Headlines ja sowieso nicht mehr werden.