Eines steht ab der ersten Zeile fest: Wenn man gerade Geburtstag hatte und dann einen Text über das Älterwerden verfasst, wird man keine Preise für besondere Originalität erwarten dürfen.
Was ich allerdings gern erwarten dürfen würde: Dass manch jüngerer Kollege sich wenigstens die paar Sekunden lang, in denen er mir zwecks Gratulierens seine Aufmerksamkeit zukommen lässt, seinen jeweiligen eigenen Beitrag zur Beschleunigung meines Alterungsprozesses bewusst macht.
Würde man beschließen können, ab einem bestimmten Alter einfach über den Dingen zu stehen, könnte ich irgendwann auch ohne einleitende Kollegenschelte befriedigende Texte schreiben. Doch gelangt man, so man sich mit dem Älterwerden befasst, schnell an den Punkt, den ich wie folgt umschreiben würde: Die Welt ist eben, wie sie ist. Leider ist man noch nicht alt genug, dass einem alles komplett egal sein kann. Aber eben doch alt genug, um sich keinen überflüssigen Illusionen mehr hinzugeben. Frieden und Gerechtigkeit auf der Welt ist für ältere Menschen genauso vom Tisch wie die Vorstellung, Eintracht Frankfurt noch einmal als Deutschen Meister erleben zu können.
Genug lamentiert. Schließlich stecken dahinter auch etliche Chancen. Man könnte das Wissen um die Unveränderbarkeit beispielsweise dafür nutzen, sich weniger aufzuregen, wenn es ja sowieso nichts bringt. Keine Erwartungen – keine Enttäuschungen. So geht Altwerden heute! Wurde Zeit, dass man sich auch einmal der Vorteile des Alterns bewusst wird!
Nun ist die Welt mit dieser Sichtweise zwar leichter zu ertragen, wird aber von einem entscheidenden Nachteil getrübt, der sich auf folgende Formel bringen lässt: Man hat keine Visionen, Erwartungen und Hoffnungen mehr.
Genau genommen kann man auf ähnliche Weise fast jeden Vorteil, den man als älterer Mensch hat, relativieren. Weiteres Beispiel: Älteren Personen wird eher nachgesehen, wenn sie ´mal etwas vergessen. Demgegenüber steht als Nachteil zu verbuchen, dass man im Alter vergesslicher wird.
Alles eine Frage der Perspektive also? Zumindest eine Sache kann als Gewinn verbucht werden, ohne dass sich durch die Hintertür ein Nachteil hereinschleicht: Man kann in Bus und Bahn sitzenbleiben, wenn es darum geht, noch älteren Menschen einen Sitzplatz anzubieten. Generell kann man immer öfter sagen: Das sollen jetzt ´mal die Jungen machen. Dieser Satz ist die Zauberformel, mit dem Senioren und solche, die es bald werden wollen, jede noch so harmlose Aufgabe abschmettern können. Vor allem impliziert sie, dass die Betreffenden früher selbstverständlich am lautesten „Hier!“ gerufen haben, wenn Freiwillige für Überstunden und Doppelschichten oder das Wenden von Grillgut auf dem Sommerfest des Sportvereins gesucht wurden, selbst wenn sie sich vor all diesen Dingen regelmäßig erfolgreich gedrückt haben.
Überprüfen kann es eh keiner mehr: Die Jüngeren waren nicht dabei, die Älteren können sich bereits nicht mehr richtig erinnern. Genau jetzt ist die Zeit, in der Helden gemacht werden.
Man kann als alter Mensch mit beeinträchtigtem Sehvermögen ohne Verlust der Glaubwürdigkeit behaupten, man habe jemanden gar nicht gesehen, obwohl man einfach nur überhaupt keinen Bock auf ausgerechnet diese Person und deshalb einfach in eine andere Richtung geschaut hatte, als sie zwei Meter vor einem aufgetaucht war. Auch diese Medaille hat eine Kehrseite: Man sieht nämlich oftmals tatsächlich schlechter. Und selbst für den Fall, dass das Manöver gelingt, weil der andere genauso schlecht sieht oder einfach nur genauso wenig Lust auf genau diese Begegnung hatte, kann man davon ausgehen, dass man sich wenig später ohnehin wieder trifft, weil man nämlich das selbe Ziel hat.
Also hat man anschließend in der Warteschlange der Apotheke, des Augenoptikers oder im Wartezimmer der Arztpraxis ausreichend Zeit, sich ausführlichst auszutauschen. Denn dort begegnet man sich im fortgeschrittenen Alter. Fast so wie man sich früher auf Konzerten oder in Kneipen traf. Nach wie vor hat man zumindest ähnliche, bloß eben wesentlich uncoolere Anliegen. Allein das sollte Ansporn genug für einen gesunden Lebensstil sein, um das Aufsuchen solcher Örtlichkeiten so gut und so lange es geht zu vermeiden.
Dabei sind sich Arztpraxen und Schankwirtschaften ähnlicher als auf den ersten Blick ersichtlich: Beides sind Orte der Begegnung. In dieser Funktion trifft man dort wie beschrieben zwangsläufig auch ´mal auf Menschen, die man streng genommen eher nicht gebraucht hat. Und es gibt einen Tresen. Im direkten Vergleich riecht die Arztpraxis meist etwas seltsamer, aber eigentlich würde es keinen Unterschied machen, wenn beispielsweise beim Proktologen Bier ausgeschenkt würde. Für viele Patienten wären damit mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die Angst vor einem unangenehmen Termin wäre gelindert; wichtige Vorsorgeuntersuchungen würden regelmäßig wahrgenommen, womöglich sogar häufiger als empfohlen.
Da niedergelassene Ärzte allenthalben darüber klagen, dass man durch eine eigene Praxis schon seit langem nicht mehr seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, könnte man den kargen Erlös aus einem solchen Unternehmen zusätzlich steigern, indem man dort Geldspielautomaten aufhängt und den Patienten damit einen sinnvollen Zeitvertreib während ihrer Wartezeit ermöglicht.
Es würde sich endlich wieder lohnen, Arzt zu werden. Und wenn es genug Ärzte gibt, ist letzten Endes auch uns allen geholfen. Wir brauchen Menschen, die die Haltbarkeit anderer Menschen verlängern. Es gibt schon genug Dinge, die nach nur kurzer Zeit der Nutzung wieder entsorgt werden.
Irgendwie beruhigend, dass die Fähigkeit, mit analytischem Sachverstand gesamtgesellschaftliche Probleme zu erfassen und dafür Lösungen zu entwickeln, von denen alle Beteiligten etwas haben, im Alter nicht zwangsläufig nachlässt. Auch wenn diese Lösungen niemand hören will.
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