So etwas sagt einem ja wieder niemand. Während man bei manchem, was im Laufe eines durchschnittlichen Lebens auf uns einprasselt, recht schnell ahnt, dass man eine gerade erworbene Kenntnis oder Fertigkeit aller Voraussicht nach niemals mehr benötigen wird, gibt es einen blinden Fleck, bei dem die eigene Intuition regelmäßig versagt: Bekommt man bescheinigt, ein guter Zuhörer zu sein, fühlt man sich geschmeichelt. Gerade in jungen Jahren, wenn man auf der Suche nach sich selbst irgendwie noch nicht wirklich fündig geworden ist und man aus diesem Nichts heraus plötzlich ein solches Kompliment erhält, ist das Balsam für die ansonsten geschundene Seele. Zuhause wird man ja doch nur dauernd mit Vorwürfen wie „Wie lange soll das mit dem Studieren eigentlich noch dauern?“ oder „Raucht Ihr wieder Crack?“ konfrontiert – da kommt ein kleines bisschen Anerkennung im Grunde genau zur richtigen Zeit.
Leider ist die Konsequenz häufig, dass man den irrigen Glauben, es handele sich dabei um eine positive Eigenschaft, übernimmt und in diesem Sinne weiter daran arbeitet, diese zu verfeinern. Zwar hat man eine ungefähre Ahnung davon, dass die Eigenschaft des Gut-Zuhören-Könnens keine Perspektive für die nächsten 20 Jahre bietet, zumindest solange man nicht Jürgen Domian ist, aber – nein, direkt sagen wird einem das niemand.
Noch dazu weist in dieser Situation auch niemand darauf hin, dass „Du bist ein guter Zuhörer“ auf derselben Stufe steht wie „stets bemüht“ oder, noch vernichtender, „die Richtung stimmt“: Es klingt von vorne wie ein Lob, tritt Dir aber von hinten in den Arsch. Es nimmt den Adressaten weder irgendwohin mit noch überhaupt irgendwie ernst. Wer einmal nach einem Treffen den Satz „Mit Dir kann man sich super unterhalten“ vernahm und sich daraufhin dachte, „nachdem ich jetzt zwei Stunden lang Deinen Monolog zunächst aus Höflichkeit, spätestens ab der zweiten Hälfte aber allein aus Mangel an Möglichkeiten nicht unterbrochen habe, muss ich das jetzt am Ende auch nicht mehr aufklären“, kennt die Spielregeln.
Was mir erst im Nachhinein richtig aufgefallen ist: Woher genau wollten die Leute denn eigentlich gewusst haben, wie gut ich zuhören kann? Woher nahmen sie die Gewissheit, dass ich überhaupt zugehört habe? Denn man muss ja an sich nicht wirklich viel machen, um den Eindruck zu erwecken, man höre gut oder meinetwegen wenigstens mittelmäßig zu. Brechen wir es einmal ´runter auf die Basisaspekte: Solange man die Augen geöffnet hält, sich nicht demonstrativ Kopfhörer aufsetzt oder einfach aufsteht und geht, hinterlässt man ja beinahe zwangsläufig den Eindruck, man würde zuhören, selbst wenn man die ganze Zeit bloß überlegt, was man am Abend essen wird.
Oder, was wahrscheinlicher ist, wie sich welches Ergebnis am kommenden Spieltag der Fußball-Bundesliga auf die Tabelle auswirkt.
Weil man für gewöhnlich von niemandem auf nichts hingewiesen wird, sei an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht: Nur weil das Zuhören relativ einfach zu simulieren ist, bedeutet es mitnichten weniger Anstrengung als das Sprechen.
Was soll man auch groß sagen?! Ich habe in meinem Leben schon so viel Quatsch anhören müssen, dass für mich inzwischen eine Art selektives Nichtzuhören die eigentliche hohe Schule des Zuhörens geworden ist. Zum Beispiel kann ich mir das Zuhören in all denjenigen Fällen von vorneherein sparen, in denen sowieso nicht über mich gesprochen wird. Das menschliche Gehirn ist ohnehin ständig damit beschäftigt, unwichtige von wichtigen Informationen zu trennen. Weshalb diese Praxis keineswegs so verwerflich ist wie sie sich zunächst anhört.
Man könnte selbst an dieser Stelle noch einwenden, mein höchst persönlicher Umgang mit dieser Materie müsse ja nicht bindend für alle anderen sein, im übrigen genauso wenig wie mein Wunsch, mir ein Eichhörnchen in der Wohnung zu halten, um dessen Schweif bei Bedarf als Flaschenbürste benutzen zu können.
Allerdings: Fürs Zuhören allein benötigt das Hirn lediglich ein rundes Viertel seiner Kapazität. Die übrigen drei Viertel mäandern durch das restliche Weltgeschehen und machen dabei, bedingt durch die schiere Masse an möglichen relevanteren Themen, schon rechnerisch eine Beschäftigung mit anderen Dingen sehr viel wahrscheinlicher als eine Auseinandersetzung mit dem, was der Gesprächspartner gerade von sich gibt.
Wenn man also einem Anderen eines seiner normalerweise in doppelter Anzahl verfügbaren Ohren leiht, sollte man stets bedenken, was sich zur gleichen Zeit zwischen den Ohren sonst noch abspielt. Ich hoffe, dass dieser Sachverhalt bei möglichst vielen Senioren ankommt, bevor ich mir das nächste Mal, bloß weil einer von ihnen mit mir erfolgreich ein Gespräch über den Hund an meiner Leine begonnen hat, vor der Arbeit noch seine komplette Lebensgeschichte anhören darf.
Wenn sich Umfragen zufolge dennoch 96 Prozent der Erwachsenen für gute Zuhörer halten, könnte man sich also nicht allein auf Lebenserfahrung, sondern auch auf valide Forschung stützen, wollte man diese Zahl in Zweifel ziehen und einmal mehr auf den Unterschied zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung verweisen. Wobei speziell bei diesem Thema die Kluft zwischen beidem schwierig aufzulösen ist: Denn wenn jemand Schwierigkeiten mit dem Zuhören hat, wird er kaum eine Ausnahme machen, wenn man ihm exakt dies sagen will. Dass obendrein ausgerechnet viele der kommunikationsunfähigsten Zeitgenossen mit einem unangemessen hohen Sendungsbewusstsein ausgestattet wurden, macht die Aufgabe nicht leichter. Dass sich innerhalb dieser Gruppe auch noch eine keineswegs vernachlässigbare Menge an Leuten mit einem gefühlten IQ von 75 befindet, bringt zusätzliche Brisanz in das Unterfangen. Mission kann nicht abgeschlossen werden.
Es ist wahrscheinlich jedem schon einmal passiert: Ihr denkt beim Schreiben, der letzte Abschnitt war dann eher für die Misanthropen unter den Lesern, lest daraufhin den gesamten Text nochmal, um herauszufinden, an welcher Stelle Ihr auf diese Spur abgebogen seid, und stellt dabei überrascht fest, dass im Grunde jede einzelne Zeile vorher auch schon diese Zielgruppe bedient. Als Resultat einer mehrere Monate dauernden Schreibpause hätte selbst ich ich etwas mehr von mir erwartet. Wie komme ich aus dieser Nummer wieder ´raus? Vielleicht hiermit: Ich bin der festen Überzeugung, dass die Leute nicht grundsätzlich nicht zuhören können, sondern die allermeisten von ihnen irgendwann einfach aufgegeben haben, zuzuhören, nachdem sie allzu oft Zeuge ausufernder Selbstgespräche geworden waren.
Das Weiterreichen des Schwarzen Peters von den Weghörern an die Dummschwätzer macht die Angelegenheit vielleicht nicht unbedingt weniger zynisch, ermöglicht aber optimistischere Perspektiven. Denn einfacher als sich das Zuhören wieder anzutrainieren, bis man kurz darauf doch wieder Rudi Völler zitiert („Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören!“), erscheint es mir, immer und immer wieder darauf hinzuweisen: dass man Stille innerhalb eines Gesprächs tatsächlich aushalten lernen kann; dass nichts Peinliches an einem „Dazu kann ich gar nicht viel sagen“ ist, im Gegenteil; dass ein Telefonat oder eine Moderation allerdings tendenziell ungünstige Gelegenheiten sind, Schweigen auszutesten.
Und nicht zuletzt: dass, wenn man aktuell nichts zu sagen hat, nicht bedeutet, dass man grundsätzlich nichts zu sagen hat.